Anwärterin auf den Deutschen Buchpreis Zauberhaft: Iris Wolffs „Die Unschärfe der Welt“

Auf der Suche nach dem Verschwundenen: Iris Wolff Foto: Annette Hauschild/Annette Hauschild

Der Weg von Siebenbürgen nach Stuttgart ist weit: Iris Wolff verwandelt in ihrem neuen Roman „Die Unschärfe der Welt“ verlorene Vergangenheit in unmittelbare Gegenwart.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Die jüngste in der langen Reihe dieser Familie wächst in einer Stadt auf, die man für Stuttgart halten könnte. Sie beherrscht die Kunst der Zauberei und führt ihre Tricks den Kolleginnen an der Operngarderobe vor, wo sie sich Geld verdient, während drinnen auf der Bühne die großen Dramen toben. Ihr Patenonkel hat ihr beigebracht, dass das Geschichtenerzählen Teil der Ablenkung, vielleicht sogar das eigentliche Kunststück war. Wie die Oper besteht auch ein Zaubertrick aus mehreren Akten und am schwersten ist das Ende: „Das, was verschwunden war, musste wieder auftauchen. Und wer, außer einer Zauberin, konnte dafür sorgen, dass die Dinge nicht verloren gingen?“

 

Man muss keine übereilten biografischen Parallelen zu der Autorin Iris Wolff ziehen, die mit den Kunststücken der jungen Frau ihren Roman „Die Unschärfe der Welt“ beschließt, um in diesen magischen Maximen das Geheimnis ihres eigenen Schreibens formuliert zu sehen. Denn dessen Zauber besteht darin, durch Geschichtenerzählen das Abwesende und Verlorene so gegenwärtig zu machen, dass man schwören würde, es sei wieder da: Die wie hinter Schneebergen versunkene Welt eines Dorfes in Siebenbürgen, in dem eines Tages die hochschwangere Großmutter der Zauberin auf dem Schlitten eines Fischhändlers aufbricht um noch rechtzeitig die Klinik in der nächsten Stadt zu erreichen.

Spitzel am Spieltisch

Damit fängt alles an, ein Gewebe von sieben Erzählungen, das vier Generationen einer Familie, ihre Freunde und Weggefährten umhüllt und durch die wechselvolle osteuropäische Geschichte begleitet. Der junge Samuel, der an jenem Wintertag auf die Welt kam, wächst in einem Pfarrhaus im Banat auf: geborgen in der versonnenen Stille des Obstgartens seiner Mutter und der Güte seines Vaters, der statt Pfarrer auch gerne Fußballspieler oder Rockmusiker geworden wäre. Von außen kommen Gäste, wie jene zwei verliebten jungen Männer aus der DDR, die in dem idyllischen Schutzbezirk die kostbaren Früchte eines gefährdeten Glücks genießen.

Aber auch die Zudringlichkeiten des Ceausescu-Regimes rücken näher. Einer der Whist-Partner der Mutter ist ein „unangenehm neugieriger Zeitgenosse“. Und irgendwann beschließt Samuels bester Freund, in den Westen zu fliehen. Verbindungen lösen sich auf und setzen sich an anderer Stelle wieder fort, nachdem der Eiserne Vorhang erst einmal gefallen ist und neue Metaphern das Leben bestimmen.

Tolldrastische Geburten, tragische Todesfälle und träumende Kühe

Doch diese Geschichten zu einer linearen Erzählung zusammenzubauen, hieße gerade zunichtemachen, aus was ihre Eigenart besteht: Denn die in einem Pfarrhaus im Banat aufgewachsene Iris Wolff erzählt nicht nur von dem leisen Widerstand einer Familie gegen Zwänge, Restriktionen und ideologische Festlegungen, sondern sie entwickelt eine Ästhetik der Offenheit, in der zur Erfahrung wird, wovon ihre Figuren träumen. Die Unschärfe der Welt ist das Gegenteil schneidender Bestimmtheit. Was einmal als Geheimnis der Ehe von Samuels Eltern beschrieben wird, dass seine Mutter ihren Mann nicht auf etwas festlege, und ihm dadurch das Gefühl gebe, alles sein zu können, gilt gleichermaßen für die Erzählweise dieser Autorin.

Als würde das Fenster in jeder der sieben Stationen dieser Lebensreise offenstehen, dringen von überall her Farben, Aromen, Geräusche und andere sich überlagernde Sinnesreize herein, ein Gemisch aus Sprachen, Schicksalen, Erinnerungen. Aus lauter Einzelnem ist das Ganze gefügt. Tolldrastische Geburten, tragische Todesfälle im Wasser, die Irrläufe der Liebe, träumende Kühe und fliegende Drachen – all dies und unendlich viel mehr verdichtet sich zu einer fesselnden Intensität und melancholischen Schönheit, die sich nicht selbst genügt, sondern ein zutiefst humanes Motiv umspielt.

Unwiderstehliche Magie

Die sanfte Berührung, mit der hier eine Geschichte an die andere grenzt, ohne sie zu dominieren oder zu unterwerfen, glaubt man wiederzufinden im behutsamen Umgang der Gestalten untereinander. Selbst dem brutalen Spitzel wird ein Rest an tragischer Ambivalenz zugestanden. Und es ist kein Zufall, dass sich dieses Erzählprinzip am weitesten von sich entfernt in den Passagen, in denen das reale Grauen der Diktatur direkt beim Namen genannt wird. Hier ist kein Abstand mehr möglich. Noch in seiner Beschreibung übt das Regime seine zerstörerische Kraft aus.

Samuels Mutter spürt Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen: „Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reicht nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran.“ Vielleicht erweist sich gerade darin die große Kunst der Erzählerin Iris Wolff, die es in jungen Jahren wie jene Zauberin aus Siebenbürgen nach Stuttgart verschlagen hat: dass sie mit nichts als Sprache in ein Reich führt, das jenseits der Sprache liegt. Dieser Magie kann man sich nicht entziehen.

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