Anzeichen richtig deuten Ist mein Kind hochsensibel?

Hochsensible nehmen Informationen und Reize intensiver wahr als andere. Sie bemerken jede kleinste Veränderung, denn ihre Sinne sind ständig auf Empfang. All diese Eindrücke zu verarbeiten, kostet sie viel Energie. Die Folge: Sie sind schneller überreizt und überfordert als andere Foto: Halfpoint - stock.adobe.com

Ein Viertel aller Kinder nimmt seine Umwelt intensiver wahr als andere. Sie sind schneller überreizt und von Gefühlen überwältigt. Was hochsensible Kinder brauchen.

Stuttgart - Alles war anders – von Anfang an. Doreen Fließ, dreifache Mutter, erinnert sich: „Bei uns war das Familienleben nicht so, wie es in Büchern stand.“ Ihre Kinder reagierten auf Lautstärke, fremde Menschen, Druck und viel Trubel sehr empfindlich. Schnell zeigte sich, dass sie eine immer gleiche Struktur brauchten. Dass Situationswechsel oder Arztbesuche schwierig waren. Weder in der Kita noch in der Schule lief es rund. „Zu viel Lärm, zu viele Kinder, andere Interessen, als sie ein Kitatag vorgab“, zählt Doreen Fließ auf. In der Schule ließen sich die Kinder schnell ablenken, der Tag war zu lang, zu viele Eindrücke prasselten auf sie ein, vom Schulstoff seien sie teilweise aber auch unterfordert gewesen. Der Wechsel zu einem freien Träger brachte kaum Besserung. „Meine Kinder brauchten mehr Ruhe, einen nach ihrem Tempo ausgelegten Tag. Sie wollten ihren eigenen Ideen und Interessen nachgehen“, sagt die 37-Jährige. Eins war bei all ihren Kindern gleich: Nur zu Hause, im sicheren Hafen, kamen sie zur Ruhe.

 

Die Kinder sind schneller überreizt

Heute kennt Doreen Fließ den Grund dafür: Alle drei sind hochsensibel – wie schätzungsweise 20 bis 25 Prozent aller Kinder. Sie fand heraus: Hochsensible nehmen Informationen und Reize intensiver wahr als andere. Sie bemerken jede kleinste Veränderung, denn ihre Sinne sind ständig auf Empfang. All diese Eindrücke zu verarbeiten, kostet sie viel Energie. Die Folge: Sie sind schneller überreizt und überfordert als andere.

Das Gehirn Hochsensibler gelangt schneller an seine Grenzen

Manche hochsensiblen Kinder fallen dadurch auf, dass sie sich an bestimmten Materialien in der Kleidung stören, beim Essen oder Basteln einige Konsistenzen nicht mögen oder bei Kälte, Wärme, Hunger und Durst extrem reagieren. Das kann anstrengend sein für die Familie. Doreen Fließ’ Kinder stießen mit ihrem Anderssein oft auf Unverständnis. „Ich hatte häufig das Gefühl, ihre Reaktionen rechtfertigen zu müssen“, sagt sie. „Wer alles gleichzeitig fühlt, sieht und riecht, der kann schon mal zappelig werden oder unstrukturiert wirken.“ Weil ihnen ein Filter fehlt, der wichtige von unwichtigen Informationen trennt, gelangt das Gehirn Hochsensibler schneller an seine Grenzen. Dann kann es passieren, dass ihre Stimmung sich abrupt verändert. Manche reagieren aggressiv, andere ziehen sich zurück. In der Schule werden diese Kinder oft als unkonzentriert oder langsam wahrgenommen.

„Hochsensible Kinder brauchen oft ein Vierteljahr, um richtig anzukommen““

Hier kommen Experten wie Melanie Vita ins Spiel. Die Ulmer Sozialpädagogin und Lerntherapeutin fördert und stärkt die Kinder, sie coacht Eltern, Erzieher und Lehrer. Hochsensibilität sei keine Störung, betont sie, aber sie könne zu Störungsbildern führen. Manche kämen gut klar in der Schule, in der Gesellschaft. Andere hätten mit Problemen in ganz unterschiedlichen Bereichen zu kämpfen. „Oft haben diese Kinder ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit“, hat Vita herausgefunden. „Sie brauchen Zeit, bis sie mit neuen Situationen klarkommen.“ Bei Kindergeburtstagen etwa könne es vorkommen, dass sie lieber beobachten, statt sich zu beteiligen. Vita vergleicht das mit einer Ampel, die auf Rot steht. „Die Kinder wirken passiv, teilnahmslos, wie in ihrer eigenen Welt. Sie sind damit beschäftigt, Infos zu sammeln. Hochsensible Kinder brauchen oft ein Vierteljahr, um richtig anzukommen“, so die Therapeutin. „Dann springt die Ampel auf Grün, und die Schätze, die sie in sich tragen, können endlich rauskommen.“

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Ihr ist wichtig, den Fokus auf die positiven Seiten zu richten. Hochsensible Kinder seien oft sehr intelligent. „Sie beachten Details, die andere übersehen, und stellen Fragen, auf die andere nicht kommen.“ Viele seien fantasievoll und kreativ, rücksichtsvoll und empathisch. Sie findet es wichtig, die besonderen Bedürfnisse zu akzeptieren, die sich nun mal nicht einfach wegtherapieren ließen. Feste Rituale und Regeln könnten Sicherheit geben. Statt einen Marathon an Freizeitaktivitäten brauchten die Kinder ausreichend Ruhepausen.

„Du bist ein Tausendfühler.“

Vita hilft Kindern dabei, Selbstwert zu entwickeln, mutig zu sein und Grenzen zu setzen. Jüngeren Kindern erklärt sie Hochsensibilität so: „Du bist ein Tausendfühler.“ Älteren gibt sie mit auf den Weg: „Du bist ein toller Beobachter. Es ist in Ordnung, dass du dir alles genau anguckst und dann entscheidest, ob du mitmachst.“ Zwar sei es wichtig, die Kinder hin und wieder sanft aus ihrer Komfortzone zu schubsen, aber bitte ohne Druck.

Oft hat sie mit Eltern zu tun, die wissen wollen, welche Schule geeignet ist für ihr besonderes Kind. Mit ihnen erarbeitet sie ein Säulenmodell, stellt Fragen wie: Was ist wichtig: Ruhe in der Schule? Keine Bewertung? Sozialkontakte? Braucht es viel Struktur? Schafft es einen langen Tag in einer Ganztagsschule? Was ist ein Anker für das Kind? „Ein Patentrezept gibt es nicht.“

Die Mutter gestand ihren Kindern kitafreie Tage, sogar kitafreie Jahre zu

Arbeiten betroffene Kinder auffallend langsamer als die Klassenkameraden, obwohl sie intellektuell gut mithalten können, könnte ein ausgeprägter Perfektionismus dahinterstecken. „Das kostet mehr Kraft, nach 15 Minuten geht die Konzentration dann verloren“, sagt Vita. In solchen Fällen kann sie mit bestimmten Lernstrategien unterstützen. Sie versucht, Blockaden in Antrieb zu verwandeln. Andere Experten raten zu Übungen aus der Kinesiologie oder zur Ergotherapie, verordnen Bachblüten oder geben sanfte hormonelle Impulse.

Doreen Fließ, die Mutter dreier hochsensibler Kinder, ist einen anderen Weg gegangen. Sie gestand ihren Kindern kitafreie Tage, sogar kitafreie Jahre zu. Zu Beginn der Coronapandemie wanderte die Familie nach Dänemark aus. Hier lernen die Kinder frei zu Hause, in eigener Motivation, nach ihren Interessen. „Seitdem können wir mit den Herausforderungen viel entspannter umgehen.“ Sie sagt, Eltern seien oft zwischen ihrem Bauchgefühl und den gesellschaftlichen Erwartungen oder sogar eigenen Glaubenssätzen gefangen. Fließ berät inzwischen selbst betroffene Familien und leitet eine Online-Selbsthilfegruppe. „Viele sind noch unsicher, ob es wirklich okay ist, wenn man auf ein Kind intensiver eingeht“, sagt sie. „Unsere Gesellschaft war es lange anders gewöhnt. Ich bin sehr froh, dass es immer mehr Eltern und Menschen gibt, die Beziehung statt Erziehung mit dem Kind leben möchten.“

Info

Kontakt
zur psychologischen Beraterin Doreen Fließ über www.lebensraum-flensburg.deDie Lerntherapeutin Melanie Vita ist auf www.hochsensibel-leben.de zu finden. Weitere Infos gibt es unter muenchen-hochsensibel.de

Anzeichen für Hochsensibilität bei Kindern:

- Das Kind bleibt am liebsten in seinem geschützten Umfeld. Zu viel Nähe, besonders von fremden Menschen, macht es nervös.- Gerechtigkeit ist für das Kind sehr wichtig. In diesem Zusammenhang reagiert es mitunter wütend.- Das Kind kann gut Stimmungen anderer wahrnehmen.- Das Kind ist schnell gestresst von lauten Geräuschen oder Trubel. - Hochsensible Kinder fühlen sich von zu vielen Fragen und Impulsen manchmal so überfordert, dass sie einen Wutanfall bekommen. - Das Kind braucht häufige Pausen. Es kann sich oft nicht so lange konzentrieren.- Es liebt Schönes wie Musik oder Kunst.- Es ist außergewöhnlich fantasievoll und begeisterungsfähig.

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