Christopher Hermann hat für die AOK Baden-Württemberg ein bundesweit einzigartiges ambulantes Versorgungsmodell aufgelegt. Nun scheidet er altersbedingt aus – und sieht sein Erbe in Gefahr. Im Interview rechnet er mit seinem ärgsten Widersacher ab.

Stuttgart - Der gebürtige Rheinländer Christopher Hermann gehört dem Vorstand der AOK Baden-Württemberg seit 2000 an, seit 2011 als Vorstandsvorsitzender. Zum Jahreswechsel scheidet er aus. Im Interview plädiert er für mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen mit dem Ziel, Patienten zielgenauer zu versorgen.

 

Herr Hermann, Sie haben mit den AOK-Haus- und Facharztverträgen ein bundesweit einzigartiges Versorgungsmodell aufgebaut. Auf Basis direkter Verträge mit den Ärzten haben Sie wie keine zweite Krankenkasse die Möglichkeit, Versorgung mitzugestalten. Patienten profitieren nachweislich, zum Beispiel durch weniger Klinikeinweisungen und weniger Todesfälle bei Herzpatienten. Doch nun hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein Gesetz auf den Weg gebracht, das all dies mehr oder weniger in Frage stellt. Wie erklären Sie sich das?

Herr Spahn hat unsere Alternative Regelversorgung von Anfang an ignoriert. Warum er das tut, darüber haben wir länger gerätselt. Wir haben ihn immer wieder zu Gesprächen eingeladen, aber er kam nie. Dagegen waren seine Amtsvorgänger alle bei uns, um sich zu informieren. Herr Spahn hat offenbar seine ganz eigene Agenda.

Was meinen Sie damit?

Er macht nur Dinge, die für ihn vorteilhaft sind. Regelungen, die nicht zur stromlinienförmigen Ausrichtung des Gesundheitswesens passen, stören und werden beiseitegeschoben. Statt selbst die Initiative zu ergreifen, schauen dann alle ins Bundesgesundheitsministerium und fragen Herrn Spahn, wo es lang geht. Wir dagegen machen mit den Parteien unser eigenes Ding und richten Versorgung danach aus, wie es für die Menschen in Baden-Württemberg am besten passt. Wenn viele so handeln würden, gäbe es in Deutschland eine bunte Versorgungslandschaft – und endlich echten Qualitätswettbewerb zwischen den Krankenkassen. Das kann nicht im Interesse eines Zentralisten sein, der allen zeigen will, wie man Gesundheitswesen im 21. Jahrhundert organisiert.

Könnte Spahns jüngste Reform das Aus bringen für das Versorgungsmodell der AOK?

Nein, die gesetzlichen Grundlagen dafür kann man nicht streichen, das weiß auch Herr Spahn. Der Gegenwind wäre zu massiv, weil unsere Erfolge so groß sind. Auch beim Versuch, die AOK zwangsweise bundesweit zu öffnen und uns damit die Identität zu nehmen, sind ihm Grenzen aufgezeigt worden. Aber er kann unseren ärztlichen Partnern und uns die Arbeit erheblich erschweren. Dagegen wehren wir uns derzeit vereint mit allen Kräften.

Das Misstrauen gegenüber den AOK-Direktverträgen mit Haus- und Fachärzten kam schon früh auf. Tenor: Die AOK verschafft sich einen Wettbewerbsvorteil auf Basis des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen, weil Versicherte auf dem Papier kränker erscheinen als sie tatsächlich sind. Spahn will deshalb jetzt eine Vertragstransparenzstelle schaffen, um statistische Auffälligkeiten in den Datenmeldungen zum Finanzausgleich erkennen zu können. Was sagen Sie dazu?

Da werden 7500 Ärzte beschimpft, die freiwillig unsere Vertragspartner sind, wenn man die Dinge so interpretiert, wie Sie das beschreiben. Vor Transparenzstellen ist mir nicht bange. Unsere Verträge stehen längst im Netz und sind für jedermann einsehbar. Die Zahlen zur Entwicklung der Krankheitslast unserer Versicherten liegen seit jeher unter dem Bundesschnitt. Wer als Kassenverantwortlicher ein Versorgungsmodell auflegen würde mit dem Ziel, beim Finanzausgleich abzukassieren, wäre in meinen Augen ein Hasardeur. Denn die Regeln des Finanzausgleichs können sich ja jederzeit ändern, wie Herr Spahns jüngste Reform zeigt. Ein auf schnelles Geld ausgerichtetes Versorgungsmodell wäre bald am Ende.

Sie haben die Reform des Finanzausgleichs angesprochen. Durch die neuen Regeln würde vor allem Ihre Kasse viel Geld verlieren. Kassen in anderen Bundesländern würden dagegen pro Versichertem mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhalten, über den der Ausgleich abgewickelt wird. Eine sogenannte Regionalkomponente soll krasse Unterschiede bei den Zahlungen ausgleichen, die im Extremfall 600 Euro jährlich pro Versicherten ausmachen können, ohne dass die betroffene Kasse viel dagegen ausrichten kann. Die Differenz spiegelt einfach regionale Preisunterschiede in der medizinischen Versorgung wieder. Was ist unfair daran, für einen Ausgleich zu sorgen?

Da geht es nicht um Preisunterschiede, da geht es um aktive Versorgungssteuerung. Die Verantwortlichen haben in Baden-Württemberg gezeigt, wie man durch nachdrückliches Steuern Fehlversorgung erfolgreich beeinflussen kann. Unsere Versorgungspfade gerade für chronisch kranke Menschen sind nicht nur medizinisch erfolgreicher als die Regelversorgung, sie sind auch wirtschaftlicher. Es wird so getan, als seien die regionalen Strukturen im Gesundheitswesen gottgegeben. Das sind sie aber ebenso wenig wie die hohen Ausgaben für Bettenburgen im Krankenhaussektor, die medizinisch niemand braucht.

Worauf spielen Sie an?

Ein Beispiel: In Baden-Württemberg gibt es rund 500 Betten auf 100 000 Einwohner, in Nordrhein-Westfalen sind es über 700. Diese Betten werden natürlich auch gefüllt, wenn man die ambulante Versorgung vernachlässigt. Das sorgt dann für erhebliche Kostenunterschiede.

Auch an den Rabattverträgen, die Sie federführend für das AOK-System durchgesetzt haben, gab es zuletzt wieder viel Kritik. Die Verträge hätten die Monopolisierung im Pharmabereich befördert, ist zu hören. Das sei problematisch – Monopolisten könnten ausfallen, dann seien Medikamente plötzlich nicht mehr lieferbar. Was entgegnen Sie?

Ich halte mich an die Fakten. Die Lieferfähigkeit im Rahmen der Rabattverträge für Generika liegt weit über 99 Prozent. Man kann die Lieferprobleme bei einzelnen Präparaten objektiv nur im globalen Maßstab erklären. Hunderte Millionen von Menschen brauchen diese Präparate. Die weltweite Nachfrage steigt, weil Medikamente heute auch in Ländern begehrt sind, die früher schlicht von Versorgung weitgehend abgeschnitten waren. Wenn ein großer Hersteller ausfällt, gibt es kaum Reserven. Das ist die Hauptursache für Lieferprobleme, mit denen die USA und ganz Europa zu kämpfen haben. Zu behaupten, die deutschen Ortskrankenkassen seien daran schuld, ist wirklich eine tolle Inszenierung.

Medikamentöse Therapien werden immer kostspieliger, wie das Beispiel des Präparats Zolgensma gegen Muskelschwund zeigt. Das Gesundheitswesen scheint unvorbereitet. Ein neues, sehr teures Präparat poppt auf und geht sofort in die Versorgung, obwohl es in Deutschland noch nicht einmal zugelassen ist. Eine Kasse, die dafür nicht zahlen will, steht am Pranger. Keine gute Entwicklung, oder?

Das ist ein echtes Problem, für das es bisher kein adäquates Instrumentarium gibt. Das Arzneimittelgesetz sieht ein sogenanntes Härtefallprogramm vor, wenn in Europa nicht zugelassene Medikamente in Deutschland abgegeben werden sollen, um Leben zu retten. Dabei muss das Pharmaunternehmen mitspielen. Novartis als Hersteller von Zolgensma verweigert sich aber und lädt so die ganze Verantwortung bei den Ärzten ab, auch die Haftungsfrage zum Beispiel. Das ist unverantwortlich. Darauf muss die Politik vernünftige Antworten geben.

Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Die Menschen werden immer älter, dadurch steigt die Krankheitslast. Wie gut ist das System darauf vorbereitet?

Ich bin im Kern trotz aller Herausforderungen zuversichtlich. Eine stabile Hausarztversorgung ist eine gute Voraussetzung für die Gesellschaft des langen Lebens. Es geht darum, Menschen zielgenau zu versorgen. Ohne problemgenaue Steuerung geht das nicht. Im Übrigen: Der Gesundheitssektor ist extrem dynamisch, dadurch ergeben sich immer wieder Ansätze zur Optimierung. Das erfordert allerdings Kreativität an der regionalen Versorgungsbasis, zentrale Einheitsvorgaben sind Gift dafür. Horst Seehofer hat als Gesundheitsminister einmal gesagt, die Zitrone sei ausgequetscht. Diese Einschätzung habe ich nie geteilt.