Was die Piraten für die Politik fordern, fordern sie für die Kunst - Transparenz und Mitbestimmung: Eine junge Künstlergeneration um den App-Art-Award, der am Freitag in Karlsruhe verliehen wurde, will mit alten Kunstauffassungen aufräumen.  

Karlsruhe - In bester Beuys-Manier behauptete Peter Weibel letztes Jahr, dass sämtliche Apps auf der Welt Kunstwerke seien. Insgesamt gäbe es also über 700.000 Kunstwerke mehr als bisher angenommen. Was eine freche Übertreibung! Dachte man.

 

Beim letztjährigen und erstmaligen App-Art-Award, dessen Jury Peter Weibel leitet, war man noch nicht einmal bei den drei Siegern gewillt, zweifelsfrei von Kunst zu sprechen, geschweige denn bei den übrigen der 90 eingesendeten Apps.

Die Zeit monierte, Kritisches und Selbstreferentielles habe gänzlich gefehlt, genauso Kommentare zu aktuellen Themen wie der Datensicherheit. Und Normen Odenthal vom ZDF meinte während der Heute-Nachrichten: „Na gut, ich schaus mir mal an.“ Die konservative Kritik von heute gibt sich gerne offen, hat ihr Urteil in Wahrheit aber schon gefällt.

Kunst muss eben weh tun

Das größte Befremden löste der Nachwuchspreis aus: Ein Schüler erhielt tatsächlich 5000 Euro für ein Programm, das bei der Planung des Schulalltags behilflich sein soll. Nein, als ernste Kunst konnte man das keinesfalls ernst nehmen!

Einer Kunstform wie den Apps, die sich massentauglich zeigt, misstraut man von Grund auf. Es scheint, als hätte man sich an die Frustrationen der modernen Kunst schon so gewöhnt, dass man nicht mehr ohne sie kann. Kunst muss eben weh tun. Unzugänglich und schwierig muss sie sein.

Viele App-Künstler versuchen das alte, elitäre Kunstverständnis zu erschüttern: Es geht auch anders - diese Überzeugung konnte man zu allen Seiten des zweiten App-Art-Awards hören, der wieder im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) stattfand. Die Preisträger traten für eine Kunst ein, die jeder bezahlen und intuitiv handhaben kann.

Die Kunstgeschichte des Computerspiels

Der App-Art-Award am Freitag war also mehr als nur eine Preisvergabe an kreative Apps. Er war zugleich eine Reflexion auf die altbekannte Frage „Und das soll Kunst sein?“ Stephan Schwingler von der Universität Trier hielt etwa einen Vortrag über „Die Kunstgeschichte des Computerspiels“: „Wenn ein bisschen Margarine bei Beuys Kunst sein kann, können Computerspiele das auch“, sagte der Doktorand.

Tatsächlich war einer der beiden Sonderpreise des App-Art-Awards für innovative, kritische und subversive Computerspiele ausgeschrieben: Eine Gruppe junger Studierender der Filmakademie Baden-Württemberg gewann mit ihrem Projekt „Globosome FREE“.

Die Bedienung des Spiels funktioniert wie eines der alten Kipplabyrinthe aus Holz: Indem man seinen Tablet-Computer hin und her kippt, schickt man eine kleine weiß-bläulich schimmernde Kugel über einen grünen Planeten. Sie kann Gras fressen und so sich teilen und vermehren. Lässt man aber seine Kugeln zu viel fressen, sind die Ressourcen irgendwann verbraucht, das Spiel verloren.

„Die Grenzen der menschlichen Petrischale erkennen“

Die Botschaft sollte klar sein: Das Spiel veranschaulicht, was man heutzutage Nachhaltigkeit nennt. Außerdem ginge es darum, wie Sascha Geedert (einer der Entwickler) sagte, „die Grenzen der menschlichen Petrischale zu erkennen.“ „Globosome FREE“ soll den Spieler zur Einsicht gemahnen, dass er nur eins von abertausenden Lebewesen ist, die auf der Erde leben und gelebt haben. Und dass er bald aussterben könnte, wenn er seinen ausbeuterischen Umgang mit dem Planeten nicht überdenkt.

Aber wieso eigentlich Kugeln? Warum keine mitleiderregenden Häschen oder andere Kuscheltiere? Geedert wollte mit den Kugeln an Kleinstlebewesen wie Einzeller anspielen. Damit werden konventionelle Medienbilder vermieden, die den Zuschauer durch simple Effekte zu manipulieren versuchen.

Das Entwicklerteam wollte möglichst viele Befürworter für die Idee der Nachhaltigkeit gewinnen. Egal ob Trailer, Bedienung oder Grafik - alles ist deshalb sehr ansprechend gehalten. Das Spiel zieht einen schnell in den Bann. Ein großes Vergnügen! Doch genau das lässt die Sache fragwürdig erscheinen: Wie soll man auf diese Weise Menschen zu der unbequemsten Erfahrung bewegen, die sich im Leben machen lässt: die Reflexion der eigenen Vergänglichkeit?

„Two Pictures can have sex"

Auch der zweite Sonderpreis des App-Art-Awards richtete sich an ein biologisches Thema: Die App heißt „Electric Sheep“ („Elektrisches Schaf“) und stellt eine Art mathematisch nachvollzogene Evolution dar: Aber keine Lebewesen fallen dieser künstlichen Selektion zum Opfer, sondern Bilder, genauer gesagt Desktophintergründe. Das sind die „Sheeps“ - leuchtende Animationen, in denen amorphe Formen und geometrische Figuren durch den Raum wirbeln.

„Two Pictures can have sex and can have children wich each other,“ sagte der amerikanische Software-Künstler Scott Draves bei der Preisverleihung („Zwei Bilder können Sex haben und miteinander Kinder bekommen“). Per Mausklick kann der User ein Bild bewerten oder ein neues hochladen. Die beliebtesten „Scheeps“ setzen sich evolutionär nach und nach durch: Ein Programm verarbeitet sie zu einer Art Gencode, auf dessen Grundlage neue Bilder erzeugt werden.

Die Technik hinter der App nennt man Cloud-Computing: Daten werden nicht auf dem eigenen PC gespeichert, sondern von außen über das Internet bezogen. Dadurch entsteht eine Art kollektiver Genpool. Draves „Electric Sheep“ ist ein aufregendes Experiment, das nicht zuletzt zeigt, wie sich das Internet auf die Kunst auswirkt.

A‘s in einen schwarzen Abgrund rülpsen, R‘s zum Propellerflug abheben lassen

Bei einem Künstler, denkt man gängigerweise an einen hochindividuellen Typen, an ein Original, das zurückgezogen in der Einsamkeit seines Ateliers Meisterliches vollbringt. Was man in der Literatur etwa von „Tausendundeiner Nacht“ kennt, kehrt im Zeitalter des Internets zurück: Bei Draves App wirkt ein ganzes Kollektiv an einem Kunstwerk mit.

Eine ähnlich spannende, aber ungleich verrücktere App legte dieses Jahr ein Medienkünstler aus Wien vor: Jörg Piringer erhielt den künstlerischen Innovationspreis für seine App „Konsonant“. Peter Weibel, der Vorsitzende der Jury des App-Art-Awards sah darin einen Verweis auf die neuere Entwicklung der Schriftkultur: “Wir haben lange geglaubt, dass wir einen Abschied der Guttenberg-Galaxie zu verzeichnen haben, doch die Buchstaben kommen jetzt zurück. Wir schreiben wieder mehr.”

Mit Piringers App lassen sich absurde Sprachspiele und Klangexperimente vollführen: Man kann A’s in einen schwarzen Abgrund rülpsen, R’s zum Propellerflug abheben lassen, H’s als Auffangbecken für herunterfallende Konsonanten nutzen – jeder Buchstabe wird hier zum bizarren Instrument. Indem der User einen dunklen Buchstaben- und Klangstrudel erschafft, befördert er sich wie in einem schamanischen Ritual flugs in eine fremde Welt.

Raffinierte Anspielungen auf Pacman und die Popkultur

Piringers App ist ein Spiel mit der Frage nach Ordnung und Chaos: Im Alltag scheinen Buchstaben für uns lediglich Diener zu sein, die uns bei der Übertragung von Bedeutungen zu gehorchen haben. Doch Verstehen scheitert oft – vor allen bei komplexen Themen: Der Andere meint mit Freiheit etwas anderes als man selbst. Dasselbe gilt für Piringers Buchstaben: Sie gehorchen zwar, doch zunehmend entsteht durch das Spiel ein Klanglabyrinth, das der User nicht mehr völlig kontrollieren kann.

In Piringers poetisch-experimenteller App finden sich raffinierte Anspielungen auf  die Popkultur  –  natürlich auch  auf das Spiel der Spiele: Pacman.  Der Name geht auf die japanischen Worte „paku paku“ zurück, was übersetzt „wiederholt den Mund öffnen und schließen“ heißen soll. Pirlinger schafft es mit „Konsonant“,  enorme Assoziationsräume aufzubauen.

Ob man das nun für Kunst halten mag oder nicht, es handelt sich keinenswegs nur um eine flüchtige Modeerscheinung, sondern um den Anfang einer Entwicklung: Eine junge kritische Generation ist herangewachsen, die in den neuen Medien neue Kunstformen sieht. Vielleicht werden die Apps von heute in 50 Jahren schon unbezahlbare Klassiker sein.

Eine interaktive Ausstellung mit den besten Apps ist Mittwochs bis Freitags von 10 bis 18 Uhr, Samstags und Sonntags von 11 bis 18 Uhr im ZKM zu sehen.