Wo die Wiege der Zivilisation stand, wüten die Gotteskrieger der IS-Milizen. Deren Terror ist nur der vorläufige Tiefpunkt in der Geschichte des politischen und moralischen Niedergangs einer Region, meint der StZ-Korrespondent Martin Gehlen in seinem Essay.

Stuttgart - Wo sie auftauchen, verbreiten sie Horror und Verwüstung. „Wir kennen keine Grenzen, wir kennen nur Fronten“ und „Islamischer Staat – wir bleiben und wir expandieren“, heißt ihr Kredo, das die schwarzen Gotteskrieger in den eroberten Gebieten überall an die Mauern sprayen. Sie geben eigene Pässe und Nummernschilder aus, twittern in sechs Sprachen, werben sogar mit einem Hochglanzmagazin auf Englisch. Seit Mitte des Jahres sind die Dschihadisten nach Syrien auch im Irak auf dem Vormarsch. Als Nächstes haben ihre Strategen Libanon, Jordanien und Saudi-Arabien im Visier.

 

Das Kriegshandwerk lernten die Horden des Islamischen Kalifates in drei Jahren Syriendschungel, ihre fähigsten Ausbilder kommen aus Tschetschenien. Weltweit ziehen ihre kalte Brutalität, ihr Männlichkeitskult und ihre scheinbar unaufhaltsame Dynamik Sympathisanten in den Bann. Muslime aus fünfzig Nationen kämpfen inzwischen in ihren Reihen. Und ihr Kalaschnikow-Islam wird das Gesicht des Orients so umkrempeln, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist.

Denn die neue Terrorgeneration agiert nicht mehr von Felshöhlen in Afghanistan aus. Sie wütet im Herzen des Fruchtbaren Halbmonds. Hier wurde das Alphabet erfunden, hier wurden die ersten Gedichte geschrieben, hier liegen die ältesten kulturellen und politischen Wurzeln der Menschheit. In dieser Wiege der Zivilisation quälen, kreuzigen und enthaupten nun blutrünstige Gotteskrieger im Namen des Islam ihre Mitmuslime, vertreiben religiöse Minderheiten wie Christen, Jesiden und Turkmenen aus ihren seit Jahrhunderten angestammten Siedlungsgebieten, sprengen reihenweise islamische Heiligtümer in die Luft, zünden Kirchen, Klöster und Bibliotheken an oder verwüsten archäologische Ausgrabungsstätten.

Der Arabische Frühling – ein verwehter Traum

Der Arabische Frühling dagegen, der noch vor drei Jahren den gesamten Globus in seinem Bann schlug, wirkt wie ein Traum aus fernen Tagen. So gut wie alle Hoffnungen sind zerstoben, viele Protagonisten sitzen im Gefängnis. Stattdessen erfährt der Nahe und Mittlere Osten mit der blutrünstigen Expansion des Islamischen Kalifates jetzt eine ganz andere Zäsur, die Dimensionen einer historischen Kernschmelze hat: Das Menschheitserbe des Orients mit seinem einzigartigen religiösen und ethnischen Reichtum, seiner babylonischen Sprachenvielfalt und jahrtausendealten Multikultur droht zugrunde zu gehen. Die marode arabische Staatenwelt erlebt ihre Stunde der Wahrheit – zerrissen, polarisiert und erschüttert wie seit dem Untergang des Osmanischen Reiches nicht mehr. Die archaische Barbarei der Gotteskrieger hat im Zusammenspiel mit dem hilflosen Formelislam der geistlichen Autoritäten der Region die schwerste Legitimationskrise des Islam in seiner modernen Geschichte ausgelöst.

Der Islamische Staat ist weit mehr als eine neue panarabische Terrormiliz in den Fußstapfen von Al-Kaida. Seine Propagandisten verfolgen ein dschihadistisches Staatsprojekt. Es versteht sich als puritanisch-monomanes Gegenmodell zur kulturell-religiösen Pluralität der eingesessenen nahöstlichen Zivilisation. Die Gotteskrieger inszenieren sich als der Furor Allahs auf Erden, die sie von allen Falschgläubigen, Ungläubigen und Abtrünnigen, von allen Beschmutzungen und Verfälschungen säubern wollen. Jeder, der nicht zum Kreis der Rechtgläubigen gehört, besudelt das Territorium der reinen Muslime, provoziert den Zorn Gottes und muss vom Antlitz der Erde getilgt werden.

Die Unterscheidung zwischen rein und unrein gehört in der Welt der Religionen bekanntlich zu den Fundamentalkategorien. Mit der archaischen IS-Doktrin aber mutiert sie zu einer hochvirulenten Quelle von Gewalt, die die Welt die nächsten Jahrzehnte in Atem halten wird.

Die Doktrin des IS passt auf zwei DIN-A4-Seiten

Andersgläubige werden vor die Wahl gestellt, zum Islam zu konvertieren oder hingerichtet zu werden. Wessen Leben geschont wird, verliert seinen Besitz, muss fliehen oder Schutzgeld zahlen. Rechte von Frauen und Minderheiten zählen nicht. Das zwei Jahrtausende alte vielfarbige Ineinander von Gottesglauben und Kulturen, von Gelehrsamkeit und Dialog, von Bräuchen und Festen im Orient wird ausradiert. Historische Stätten werden systematisch demoliert, Theater, Bibliotheken, Kinos und Konzertsäle geschlossen. Als „kulturelle Säuberung“ bezeichnete die Unesco das Treiben der Islamisten kürzlich bei einem Expertentreffen in Paris. Von den Schulen ist jeder Unterricht in Musik, Literatur, Kunst oder Sport verbannt. Gleichberechtigung der Religionen und Toleranz gegenüber anderen ist diesem Denken absolut fremd.

Die Invasoren seien „wütende Jungen mit verzerrter Mentalität und Weltsicht“, schreibt der prominente saudische Publizist Jamal Khashoggi, der in seiner Heimat ein einsamer Rufer ist. Die IS-Krieger trampelten auf dem Erbe von Jahrhunderten genauso herum wie auf den Errungenschaften der Moderne. Alle ihre Überzeugungen von Politik, Leben, Gesellschaft und Wirtschaft passten auf zwei, drei DIN-A4-Seiten. „Es wird Zeit, dass wir bei uns nach innen schauen. Alle, die von einer ausländischen Verschwörung faseln, verdrängen die Wahrheit und schließen die Augen vor unseren eigenen Fehlern.“

Die Arabische Liga ist handlungsunfähig

Mit diesem systematischen Kulturfrevel geht eine beispiellose Erosion arabischer Staatspraxis einher, die das gesamte Gefüge des Nahen Ostens aus den Angeln zu heben droht. Die Auflösung der Grenzen hat bereits begonnen. Ein Drittel der Mitglieder der Arabischen Liga sind gescheiterte oder scheiternde Staaten, ein Drittel ist schwach und schwankend, das letzte Drittel hyperautoritär. Nirgendwo hat sich eine stabile Demokratie, geschweige denn ein Sozialstaat herausgebildet. Eine moderne Vorstellung vom mündigen Staatsbürger existiert nicht.

Und so konstatiert der libanesische Publizist Rami G. Khouri einen „katastrophalen Kollaps der existierenden arabischen Staaten“. Er habe keinen Zweifel, dass die wichtigste Ursache für Geburt und Wachstum der IS-Gedankenwelt „der Fluch der modernen arabischen Sicherheitsstaaten seit den siebziger Jahren ist, die ihre Bürger wie Kinder behandelten und sie vor allem Gehorsam und Passivität lehrten“, schreibt er. Für ihn ist die eigentliche Tragödie „die korrupte und amateurhafte Staatlichkeit“ quer durch die arabische Welt, dazu Einmischung und militärische Übergriffe ausländischer Mächte, einschließlich der Vereinigten Staaten, einiger Europäer, Russlands und des Iran.

Der Libanon und Jordanien werden von Flüchtlingen aus Syrien überrannt. Das ölreiche Libyen versinkt in der Unregierbarkeit. Mehr als 200 bewaffnete Milizen haben dort die Kontrolle übernommen. Stämme, Clans und Städte befehden einander, zerstören Flughäfen und Infrastruktur. Im bettelarmen Jemen, dem ersten Staat der Welt, dem bald das Trinkwasser ausgehen könnte, belagern schiitische Houthi-Milizen die Hauptstadt Sanaa. Syriens Diktator Baschar al-Assad führt seit Jahren Krieg gegen seine eigenen Landsleute mit Scud-Raketen, Giftgas und Fassbomben. Wie im Mittelalter lässt er ganze Städte umzingeln, belagern und aushungern. Die Zerstörung des Irak begann 1980 mit dem von Saddam Hussein vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Iran. Seitdem folgte ein Desaster dem anderen, der Angriff auf Kuwait, die internationale Isolierung, schließlich die US-Invasion 2003.

Korruption, Inkompetenz, wuchernde Bürokratie

Der Militärputsch im demografischen Schwergewicht Ägypten im Sommer 2013 wiederum war ein dramatischer und auf lange Zeit kaum reversibler Rückschlag für alle demokratischen Ambitionen der Region. Kairo ist zurückgefallen in den gewohnten Polizeistaat – noch erratischer und hemmungsloser, noch zwanghafter und anarchischer, als es jahrzehntelang unter Mubarak war. Gleichzeitig sind die 200 Millionen Araber, zieht man das sprudelnde Rohöl einmal ab, im Weltvergleich wirtschaftlich wenig produktiv, wissenschaftlich abgehängt, ineffizient verwaltet. Ohne ihr ölfinanziertes Migrantenheer wäre die Golfregion immer noch ein unwirtliches Entwicklungsgebiet. Die arabischen Mittelmeerstaaten sind drei Generationen nach ihrer Unabhängigkeit zerfressen von Korruption, politischer Inkompetenz und hemmungslos metastasierenden Bürokratien. Nirgendwo sind heute zivilgesellschaftliche Kräfte erkennbar, die das Blatt wieder zum Besseren wenden könnten.

Und auch der Islam als Quelle von Ethos, Anthropologie oder Staatsdenken befindet sich angesichts dschihadistischer Barbarei in der schwersten Legitimationskrise seiner modernen Geschichte. Der Islam ist heute eine Religion, die ihre Kernbotschaft nicht mehr kohärent formulieren, vermitteln und begründen kann. Gilt das Tötungsverbot, oder gilt es nicht? Warum machen sich Selbstmordattentate heutzutage wie eine Seuche breit? Sind Selbstmordattentäter Massenmörder oder Aspiranten für das Paradies? Ist das Abschlagen von Kopf und Gliedmaßen, das Auspeitschen bei religiösen Verstößen Lehre des Islam oder nicht? Warum ist der Eintritt in den Islam frei, der Austritt dagegen nach der Scharia mit dem Tode bedroht? Warum werden Frauen im islamischen Personenstandsrecht bis heute diskriminiert? Warum dürfen Nichtmuslime nicht nach Mekka und Medina? Warum dürfen Christen auf dem Boden von Saudi-Arabien keine Kirchen bauen und noch nicht einmal Gottesdienst feiern? Und wie hält es der Islam mit der modernen Toleranz gegenüber Andersgläubigen oder Nichtgläubigen?

Eine innermuslimische Debatte findet nicht statt

Das sunnitische Establishment des Nahen Ostens wirkt hilflos, unfähig, in dieser Megakrise klar und eindeutig Orientierung zu geben. Die Abgrenzungen zur Gewaltbotschaft der Gotteskrieger geraten halbherzig und nebulös. Eine breite innermuslimische Debatte zu den geistigen Wurzeln der Radikalen findet nicht statt. Millionen von Muslimen in Nahost verweisen auf die innere Pluralität des Islam und tun so, als wenn sie das alles nichts anginge.

So brauchte der saudische Großmufti Abdul Aziz al-Sheikh geschlagene zwei Monate und erst eine wütende Gardinenpredigt von König Abdullah im Fernsehen über „die Faulheit und das Schweigen der Klerikerkaste“, bis er IS öffentlich verurteilt und als „Feind Nummer eins des Islam“ abkanzelte. Ahmad Mohammad al-Tayyeb hingegen, der Chefgelehrte von Kairos Al-Azhar, die sich gern im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte IS kürzlich eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen solle. „Wie sollen saudische Religionsgelehrte Gruppen den Kampf ansagen, die Gewalt, Enthauptungen und Extremismus propagieren“, fragt der liberale saudische Intellektuelle Turki al-Hamad, „wo sie doch genau dieselbe antipluralistische, wahabitische Ideologie in ihren Köpfen haben?“

Wer trägt die Verantwortung?

Kein Wunder, dass klammheimliche Sympathie für die anscheinend unbezwingbaren IS-Horden weit verbreitet ist. Junge Araber erleben die Offensive des Islamischen Staates als lang ersehnte Genugtuung – auch gegen den Westen und dessen andauerndeDominanz in ihren Heimatländern. Aus Europa und den Vereinigten Staaten reist der sunnitische Nachwuchs scharenweise nach Syrien und Irak, um bei dem hyperradikalen „Awakening“ ihres Islam mit dabei zu sein. „Was IS tut, verkörpert genau das, was wir in der Schule gelernt haben“, twitterte ironisch der saudische Intellektuelle Ibrahim al-Shaalan. „Wenn unsere Curricula einwandfrei sind, dann handelt IS richtig. Wenn das aber alles falsch ist, wer trägt dann die Verantwortung?“ – Eine Frage, die sich nicht nur an das muslimische Establishment der Region richtet, sondern auch an deren autoritäre Staatslenker und ihre politische Kultur.

Die Schuld liegt nicht nur außerhalb der islamischen Kultur

„Die überwältigende Mehrheit der friedliebenden Muslime muss sich der Frage stellen, welche Faktoren den beängstigenden Entwicklungen in der eigenen Religionsgemeinschaft zugrunde liegen“, forderten kürzlich sogar die deutschen Bischöfe, die normalerweise im Umgang mit dem Islam sehr behutsam agieren. „Nur auf Fehler, Versäumnisse und Schuld zu verweisen, die außerhalb der islamischen Kultur liegen, greift zu kurz.“ Barack Obama wurde in seiner jüngsten Rede vor der UN-Vollversammlung so deutlich wie vor ihm noch kein US-Präsident: „Letztlich ist die Aufgabe, religiöse Gewalt und Extremismus zurückzudrängen, ein Generationenprojekt – und eine Aufgabe für die Völker des Nahen Ostens“, erklärte er. Diese Veränderung der Köpfe und Herzen könne keine ausländische Macht herbeiführen.

„Wir Araber sollten uns nichts vormachen“, bilanzierte dann auch Hisham Melhem, eine der ganz wenigen selbstkritischen Stimmen und Studioleiter des Senders Al-Arabija in Washington. „Die arabische Zivilisation, die wir gekannt haben, ist so gut wie verschwunden.“ Die arabische Welt von heute sei gewalttätiger und instabiler, fragmentierter und getriebener von Extremismus denn je. Die Verheißung des Arabischen Frühlings auf politische Beteiligung und die Wiederherstellung der menschlichen Würde sei verdrängt worden von Bürgerkriegen, ethnischen, religiösen und regionalen Zerwürfnissen sowie dem Wiedererstarken absolutistischer Herrschaft. „Die Dschihadisten des Islamischen Staates sind nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Sie sind herausgeklettert aus dem verrottenden, hohlen Kadaver, der von unserer zusammengebrochenen Zivilisation noch übrig ist.“