Am 1. Mai öffnet der deutsche Arbeitsmarkt seine Tore für Zuwanderer aus acht Ländern Osteuropas. Ängste und Hoffnungen machen sich breit. 

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Vom ersten Mai an gilt in Europa die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Arbeitskräfte aus Estland, Lettland und Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn können dann ohne Beschränkungen in Deutschland beschäftigt werden. Zugleich gilt die Dienstleistungsfreiheit für das Baugewerbe und die grenzüberschreitende Leiharbeit.

 

Seit Mai 2004, dem Beginn der EU-Osterweiterung, gelangen pro Jahr gut 200.000 Arbeitskräfte in die 15 Staaten der alten Union. Infolge der Finanzkrise ist die Zuwanderung von 2008 an jedoch stark gesunken. Wenn die Wirtschaft weiter boomt, hat die "EU15" nach einer Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 250.000 Zuwanderer pro Jahr zu erwarten. Je nach Arbeitsmarktlage sind Schwankungen von 150.000 bis 350.000 möglich.

Zuwächse besonders im Baugewerbe und im Maschinenbau

Wie attraktiv ist Deutschland? Fällt sein Anteil genauso hoch aus wie vor der EU-Osterweiterung, könnten bis zu 60 Prozent in die Bundesrepublik kommen - also an die 140.000 Arbeitskräfte. Bleibt er so niedrig wie seit 2004, wären es 58.000. "Wir schätzen, dass der Anteil zwischen 45 und 60 Prozent liegen wird, was einer Nettozuwanderung von 100.000 bis 140.000 Menschen pro Jahr entspricht", sagte der IAB-Forschungsbereichsleiter Herbert Brücker, der in dem Nürnberger Institut zuständig ist für europäische Integration, der StZ. Der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hält diese IAB-Schätzung für viel zu niedrig. "In der nächsten Dekade kommen bestimmt Millionen", versichert er.

"In der Vergangenheit hatten wir wegen der Saisonarbeitskräfte einen erstaunlich hohen Anteil in der Landwirtschaft", sagt Brücker. Die Bauwirtschaft sei bei der legalen Beschäftigung nur unterproportional betroffen gewesen. Dieses Bild wird sich verändern. Das IAB rechnet mit einem Zuwachs gerade im Baugewerbe, ferner in der Industrie - etwa im Maschinenbau, wo Facharbeiter gefragt sind. Auch Dienstleister des Hotel- und Gaststättengewerbes und in den Pflegeberufen werden die Chance nutzen.

Künftige Zuwanderer werden hoch qualifiziert sein

"Wir reden über eine Bevölkerung, die höher qualifiziert ist als die deutsche", sagt Brücker. Die Migranten aus den Beitrittsländern hätten einen höheren Anteil an Hochschulabsolventen und weniger Menschen ohne Berufsausbildung. Das bedeutet: gab es bisher oft eine Immigration niedrig Qualifizierter in das deutsche Sozialsystem, so werden sich nun Migranten mit Facharbeiterausbildung und Uniabschluss nach Deutschland aufmachen. Viele dürften dennoch unter ihrer Qualifikation eingesetzt werden. Schon in Großbritannien war zu beobachten, dass viele Hochschulabsolventen Billigjobs annehmen mussten.

Der Gewerkschaftsbund betont, weder eine Abschottung des Arbeitsmarktes zu befürworten, noch die Beschäftigten aus Osteuropa stigmatisieren zu wollen. Das Problem seien aber deutsche Firmen, die zur Gewinnmaximierung auf Lohndumping durch ausländische Subunternehmer setzen. Aus DGB-Sicht fehlen effektive Abwehrmechanismen. Alle Vorschläge für einen besseren Schutz vor Missbrauch würden von der schwarz-gelben Regierung blockiert, wird beklagt.

Ein Problem sei der fehlende Mindestlohn

So gebe es in Deutschland im Gegensatz zu fast allen anderen EU-Staaten keinen flächendeckenden Mindestlohn, der eine verbindliche Untergrenze festlegt. Der jüngst beschlossene Mindestlohn für die Leiharbeit sei nur ein Zwischenschritt. Dort müsse nun der Equal-pay-Grundsatz (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) durchgesetzt werden. Zudem sei die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die für die Überprüfung von Arbeitsbedingungen und Sozialgesetzen zuständig ist, noch viel zu schlecht besetzt.

Die Tatenlosigkeit der Politik sei auch in den Ländern und Kommunen zu beobachten. Nach wie vor fehle es an Vergaberegeln für öffentliche Bauherren, die sicherstellen, dass nur tariftreue Firmen Aufträge erhalten.

Das IAB rechnet vor, dass die Zuwanderung seit Beginn der EU-Osterweiterung das Bruttoinlandsprodukt der Union jährlich um 0,2 Prozent gesteigert hat. "Das sind rund 36 Milliarden Euro an fortlaufendem Gewinn", sagt Brücker. Dieser Betrag werde sich bis 2020 etwa verdoppeln. Der Zuwachs werde aber ungleich verteilt sein.

Die Rentenversicherung profitiert

Gewinner sind vornehmlich die Migranten selbst, weil sie hierzulande mehr verdienen als in ihrer Heimat. Auf den Arbeitsmarkt werde sich die Zuwanderung aber weitgehend neutral auswirken. Die Arbeitslosigkeit werde langfristig nur geringfügig um 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte steigen, sagt Brücker. Er nennt dies einen Struktureffekt, weil Ausländer generell stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Jetzt erst recht: Ausländer konkurrieren stärker mit den Neuzuwanderern im Arbeitsmarkt als die Einheimischen. Bei ihnen steigt auch die Abhängigkeit von Hartz-IV-Leistungen.

Die künftigen Migranten leisten wegen der günstigen Altersstruktur freilich einen nennenswerten Nettobeitrag zu den Sozialversicherungssystemen. Somit gehört vor allem die Rentenversicherung zu den Profiteuren.

Illegale Aktivitäten könnten zurückgehen

Insgesamt seien die Arbeitsmarktwirkungen erstaunlich niedrig, so Brücker. Ein Grund liege in der Anpassung der Kapitalmärkte. Dies läuft nach folgender Logik ab: das Arbeitsangebot wächst, was Arbeit zunächst billiger machen könnte. Folglich ist eine höhere Kapitalrentabilität zu erwarten. Dies lockt weitere Investoren an, so dass mehr Kapital aus dem Ausland zufließt. Doch alsbald ist das Verhältnis von Kapital zu Arbeit wieder auf dem alten Niveau. "Die Löhne werden nur geringfügig oder überhaupt nicht fallen", prognostiziert Brücker.

Dass der deutsche Arbeitsmarkt unkontrollierbar wird, glaubt das IAB nicht. Schon jetzt gebe es viele illegale bis halblegale Aktivitäten - etwa den Scheinselbstständigen oder die schwarzarbeitende polnische Putzfrau. All dies könnte nach dem ersten Mai zurückgehen, denn der Anreiz, die Gesetze zu umgehen, schwindet.

Hintergrund: Nach und nach entfallen alle Schranken

Freizügigkeit Deutschland hat die Freizügigkeit für Arbeitnehmer wegen des hohen Lohngefälles zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten seit der EU-Osterweiterung 2004 eingeschränkt, um den ungezügelten Zuzug von Billiglöhnern verhindern. Vereinbart wurde eine Übergangsfrist von sieben Jahren.

Öffnung Dies betrifft derzeit zehn EU-Beitrittsländer. Für acht Länder entfallen die Beschränkungen am 1. Mai. Die Einschränkungen für Bulgarien und Rumänien, die 2007 beitraten, fallen erst Anfang 2014 weg.

Dienstleistungsfreiheit Auch die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit wird nicht mehr begrenzt. Das betrifft vor allem die Zeitarbeit (Arbeitnehmerüberlassung) und das Baugewerbe. Am Bau und in einigen Wochen auch bei der Leiharbeit gilt hierzulande jedoch ein Mindestlohn, der für ausländische Dienstleister bindend ist.