Vor einem Jahr hat sich der deutsche Arbeitsmarkt Osteuropa geöffnet. Die Angst vor dem Strom von Billiglöhnern war unberechtigt.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Berlin - Die Alarmglocken läuteten unüberhörbar. Am 1. Mai 2011, so befürchteten im Vorfeld viele, würde Deutschland dem Lohndumping Tor und Tür öffnen. An jenem Tag erhielten die Arbeitnehmer aus acht ost- und mitteleuropäischen Staaten, die zum 1. Mai 2004 der EU beigetreten waren, freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Doch der Ansturm blieb aus. Stattdessen ist eine moderate Zuwanderung festzustellen.

 

Nach den Zahlen des Ausländerzentralregisters (Stand Ende Dezember) hat die ausländische Bevölkerung im Jahr 2011 gegenüber 2010 um 79 000 Menschen aus den acht Ländern zugenommen. Zugleich ist die sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigung bis Ende Januar 2012 um 86 000 Jobs für diese Klientel gewachsen. Aus dieser Diskrepanz folgert das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (IAB), dass auch nicht Erwerbstätige und Selbstständige eine normale Beschäftigung aufgenommen haben.

Insgesamt sei die Entwicklung aus arbeitsmarktpolitischer Sicht sehr zu begrüßen, sagt IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker. Während die Zahl der Arbeitslosen – absolut gesehen – konstant geblieben sei, gebe es nun mehr Beitragszahler, die zudem Lücken im deutschen Jobangebot ausgefüllt hätten. „Wir haben die Neuzuwanderer hervorragend in den Arbeitsmarkt integriert“, resümiert der Bereichsleiter. Somit hätten die Unternehmen und die Sozialkassen vom 1. Mai 2011 profitiert. Die Befürchtung, dass die Osteuropäer die Löhne drücken, sei „völlig albern“ gewesen, sagt Brücker. „Von Verdrängungseffekten kann bei den Größenordnungen keine Rede sein.“ Bei rund 40 Millionen Erwerbstätigen könnten 86 000 zusätzlich Beschäftigte keinen spürbaren Effekt bei der Arbeitslosenquote oder den Löhnen auslösen.

Die meisten Zuwanderer verzeichneten Bayern (20 600), Nordrhein-Westfalen (14 800) und Baden-Württemberg (11 700). Das IAB vermutet, dass es sich vornehmlich um junge Kräfte auf Facharbeiterniveau handelt. Auf die Wirtschaftszweige bezogen hatte die Arbeitnehmerüberlassung mit 14 200 die meisten Neuzugänge aus dem Osten zu verzeichnen – in der Zeitarbeit sind die Hürden, eine Anstellung zu finden, für Facharbeiter niedriger als in anderen Bereichen. Es folgen das Baugewerbe (11 000), die Industrie (10 500) und der Dienstleistungsbereich (8600) – allesamt Sektoren, wo Migranten auch sonst überdurchschnittlich vertreten sind. In der Gastronomie seien 7900 untergekommen, im Gesundheitswesen 4600.

„Die Zuwanderung wird sich abschwächen“

Für die Zukunft prognostiziert Herbert Brücker: „Die Zuwanderung wird sich abschwächen.“ Dies lasse sich an den Monatszahlen ablesen. In den ersten drei Monaten seit Mai 2011 sei noch eine starke Zunahme zu verzeichnen gewesen, seither ein Rückgang. Er rechne damit, dass der Zustrom aus diesen Ländern 2012 eher geringer ausfallen werde als 2011.

So wie sich die Angst vor einer Gefahr aus dem Osten als sinnlos erweist, so haben auch die Hoffnungen getrogen, die Neuzuwanderer könnten den deutschen Fachkräftemangel lindern. „Es ist zu wenig von dem Positiven eingetreten“, urteilt Brücker. „Wir haben ein ziemlich gut qualifiziertes Fachkräftepotenzial verloren, weil wir den Arbeitsmarkt so spät geöffnet haben.“ Sehr bescheiden sei der Beitrag der Zuwanderer zum Schließen der Fachkräftelücken hierzulande. Die Ansicht von Tomasz Major, dem Präsidenten einer polnischen Arbeitgeberkammer, wonach Deutschland mit der verzögerten Öffnung ein Eigentor geschossen habe, teilt Brücker. Fairerweise müsse aber daran erinnert werden, dass sich die Wirtschaft 2004 in einer schlechteren Verfassung dargestellt habe als heute, fügt er an.

Behoben wird der deutsche Fachkräftemangel nicht

Bemerkenswert: vor der vollständigen Öffnung des Arbeitsmarktes hat Deutschland 50 bis 60 Prozent der Zuwanderung aus den acht osteuropäischen Ländern absorbiert – nach der Öffnung nur noch gut 30 Prozent. So zeigt sich der massive Umleitungsprozess in andere Länder, der nun weitgehend irreversibel erscheint. Vor allem nach Großbritannien streben viele Zuwanderer. Zudem spielt Skandinavien für die baltischen Staaten eine wichtige Rolle. Aber auch die Niederlande locken erkennbar Neuzugänge an.

Zwar hat Deutschland mit seiner geringen Arbeitslosigkeit und den beliebten Produkten „made in Germany“ – wie Mercedes und Porsche – noch immer einen guten Ruf, aber dennoch lassen sich etliche Gründe dafür finden, dass die jungen Osteuropäer um die Bundesrepublik oft einen Bogen machen. So haben sie sich zwar ein hohes Bildungsniveau und gute Sprachkompetenz angeeignet, sprechen aber eher englisch als deutsch. Die deutschen Unternehmen wiederum legen genau darauf einen gesteigerten Wert. Zweitens bietet sich den Migranten in Großbritannien ein flexiblerer Arbeitsmarkt: man kommt wesentlich leichter hinein, wird mangels intensivem Kündigungsschutz aber auch leichter entlassen. Drittens zählen die Netzwerkeffekte: wo schon Bekannte tätig sind, zieht der Migrant lieber hinterher – bei günstigeren Transportkosten durch die Billigfluglinien etwa von Warschau nach London. Viertens hat Deutschland ein duales Ausbildungssystem, so dass sich die Unternehmen mit Zuwanderern aus anderen Berufsbildungssystemen schwertun. Und nicht zuletzt „werden die ausländerfeindlichen Tendenzen bei uns im Ausland durchaus wahrgenommen“, sagt der IAB-Experte Brücker.

Behoben wird der deutsche Fachkräftemangel freilich auch nicht aus den südeuropäischen Krisenländern Griechenland, Spanien oder Portugal. Der Zustrom von dort sei im Vorjahr zwar um 50 bis 80 Prozent gestiegen; allerdings seien die Werte bei 20 000 bis 35 000 Zuwanderern aus den drei Ländern sehr gering.

In Spanien sei die Depression besonders groß, hat Brücker erfahren. Dort würden immer mehr Menschen Deutsch lernen. Doch seien auch ihre Chancen nicht so gut, hierzulande Fuß zu fassen. Auf einem besseren Hartz-IV-Niveau für 6,50 Euro pro Stunde in der Gastronomie zu arbeiten sei für diese Leute nicht attraktiv. „Eine ordentliche Sozialhilfe bekommt der Spanier zu Hause auch“, sagt Brücker. Hinzu kämen die hohen Migrationskosten – da gebe man die heimatlichen Bedingungen nicht so schnell auf.