Ein Drittel aller Arbeitnehmer im Einzelhandel arbeitet im Minijob. Wer nicht rund um die Uhr erreichbar ist, krank wird oder Fragen stellt, wird oft aussortiert.

Stuttgart - Im Handel reich zu werden, ist möglich. Die Eigentümer der in Deutschland erfolgreichen Ketten sind allesamt milliardenschwer, bei Vermögensvergleichen stehen sie auf den vordersten Plätzen. Im Handel arm zu bleiben, ist auch möglich. Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland räumen Waren ein, beraten, kassieren, verkaufen – viele davon zu immer schlechteren Bedingungen: als Azubi, als Praktikant oder als sogenannte 400-Euro-Kraft.

 

Der Bundestag hat jetzt die Anhebung der Verdienstgrenze für Minijobs von 400 auf 450 Euro beschlossen. Im Durchschnitt verdient ein Minijobber im Einzelhandel 288 Euro. Die hierfür geleisteten Stundenzahlen werden statistisch nicht erfasst. Aus Sicht der Arbeitgeber ist der Minijob ein Erfolgsmodell. Heute ist jede fünfte Stelle in Deutschland ein Minijob, im Einzelhandel ist es sogar jede dritte. Die Ladeninhaber in Deutschland lassen rund eine Million Menschen im Minijob arbeiten.

Auch Veronica M. ist Minijobberin. Die 25-Jährige studiert, lebt allein, braucht Geld – ihre Eltern können ihr nicht helfen. Veronica arbeitet bei einer namhaften Modekette in der Stuttgarter Königstraße, ihr Vertrag sieht 13 Stunden im Monat vor – zu acht Euro die Stunde. Beim Vorstellungsgespräch wird ihr gesagt, dass die niedrigen Stunden nur pro forma im Vertrag stünden, sie könne durch Mehrarbeit auf jeden Fall monatlich zwischen 350 und 400 Euro verdienen. Nur aufgrund dieser Zusage hat sie sich auf den Job eingelassen, denn 400 Euro benötigt sie tatsächlich, um über die Runden zu kommen.

In den ersten Monaten geht alles gut. Veronica packt Hosen aus, legt Pullover zusammen, die meiste Zeit steht sie an der Kasse. Sie wird oft kurzfristig angerufen, lässt dann alles liegen und stehen und eilt in die Filiale. 50 Stunden im Monat kommen am Anfang jeweils zusammen, im Gegenzug bekommt sie monatlich 400 Euro. Alles scheint korrekt zu laufen. An ihren Vertrag denkt die Frau nicht mehr.

Das ändert sich schlagartig, als sie nach einem Jahr am Knie operiert werden muss und deshalb vier Wochen nicht arbeiten kann. „Minijobber haben die gleichen Rechte wie andere Arbeitnehmer“, betont die Sprecherin der Minijob-Zentrale. „Das betrifft den bezahlten Urlaub genauso wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.“ Veronika bekommt während ihrer Abwesenheit 104 Euro ausbezahlt: 13 Stunden zu je acht Euro – so wie es in ihrem Vertrag steht. Dass ihr gesetzlich mehr – nämlich soviel wie sie im Schnitt inklusive Mehrarbeit zuvor tatsächlich verdient hat – zusteht, weiß sie nicht. Als sie durch Zufall davon erfährt, sucht sie das Gespräch mit ihrer Chefin. Die hält ihr entgegen, sie solle froh sein, dass sie bei Krankheit überhaupt etwas bekommt. Schließlich habe ihr Ausfall dem Unternehmen sehr geschadet.

Veronica ist nicht in der Gewerkschaft. Die Betriebsräte in ihrer Firma interessieren sich nicht für ihren Fall, sehen sie in Minijobbern doch nur missliebige Konkurrenten für die regulären Arbeitsplatzinhaber. Auch eine Rechtsschutzversicherung besitzt Veronica nicht: die 25-Jährige muss klein beigeben, sie verzichtet auf fast 300 Euro, die ihr eigentlich zustehen. Sie möchte jetzt schnell wieder arbeiten, steckt ihr Konto doch tief in den Miesen.

Was sie nicht ahnt: bei ihrem Arbeitgeber steht sie neuerdings auf der Abschussliste. Die Nachfrage bei der Chefin sowie ihr erfolgloser Kontaktversuch mit dem Betriebsrat haben aus der treuen Arbeitsbiene eine Quertreiberin gemacht. Dass Veronica dringend 400 Euro braucht, weiß die Chefin. Sie weiß auch, dass dies der Schlüssel ist, um Veronica loszuwerden: sie teilt Veronica nur noch zweimal im Monat ein und speist sie mit 104 Euro ab. Als Veronica anmahnt, dass ihr doch Mehrarbeit zugesichert worden sei, erwidert ihre Chefin, sie solle in ihren Vertrag schauen. Veronica kündigt. Das Unternehmen spart Prozesskosten und Abfindungen. Die Minijobberin war von Anfang an komplett in der Hand ihres Arbeitgebers – ohne es zu wissen.

Die Stuttgarter Verdi-Gewerkschaftssekretärin Christina Frank kennt solche Fälle zu Genüge. Egal, ob Luxuskaufhaus oder Lebensmittel-Discounter: „Immer mehr Minijobber bekommen Verträge mit einer sehr geringen Stundenzahl angeboten, verbunden mit dem Versprechen, mehr arbeiten zu dürfen.“ Missliebige oder gesundheitlich angeschlagene Mitarbeiter würden stets „auf „Normalmaß“ gesetzt, bis sie von sich aus kündigen, weil sie von den wenigen Stunden Arbeit nicht leben können.

Das Erstaunliche: was sich im Einzelhandel in der Praxis eingebürgert hat, ist rechtlich gar nicht zulässig. Viele Unternehmen kümmert das nicht. Ihre Personalmanager wissen, dass das Bundesarbeitsgericht 2005 entschieden hat, dass die vom Arbeitgeber zusätzlich abrufbare Arbeit des Arbeitnehmers nicht mehr als ein Viertel der vertraglichen Mindestarbeitszeit ausmachen darf, eine Abweichung vom Vertragstext also strikt beschränkt ist. Wer wie Veronica 13 Stunden vertraglich fixiert hat, darf maximal 16,25 Stunden monatlich arbeiten. 50 Stunden im Monat hätte Veronica also nur arbeiten dürfen, wenn vertraglich 40 Stunden vereinbart worden wären. Die höchsten Arbeitsrichter wollen damit Willkür und Abhängigkeit mindern.

Die vielen Arbeitgeber, die gegen diese Rechtsprechung verstoßen, können sich sicher sein, dass sie kaum etwas zu befürchten haben. Haben Menschen, die in Minijobs schuften, um über die Runden zu kommen, in der Regel doch weder Geld noch Zeit für Rechtsstreitigkeiten. Und auch hier gilt: wo kein Kläger, da kein Richter.

Ein Ausbildungsplatz ist für junge Leute eigentlich eine gute Sache – auch im Einzelhandel. Vordergründig geht es darum, künftige Filialmitarbeiter heranzuziehen. Die Realität sieht aber oft anders aus: „Als wir vor einigen Jahren die ersten Azubis eingestellt haben, wurde uns schnell klar, welches Potenzial für Kostensenkungen darin steckt“, berichtet ein ehemaliger Manager eines Discounters. Weil der Azubi-Stundenlohn halb so hoch wie der einer regulären Kassiererin sei, lohne es sich, viele Azubis einzustellen. „Die Einarbeitung dauert maximal ein bis zwei Monate, anschließend beherrscht der Azubi alles, was er die nächsten beiden Jahre bei uns macht: Ware einräumen und kassieren.“ Bis zu 40 Prozent der Filialmitarbeiter bei seinem Discounter seien heute Azubis. Auch die Gewerkschaft Verdi, die eigentlich für Ausbildungsplätze kämpft, erkennt hier Missstände. „Ich kenne sogar einen Supermarkt, da arbeiten sieben Azubis und drei normale Beschäftigte“, sagt Christina Frank. „Die Azubis schuften 55 Stunden in der Woche und schlafen in der Berufsschule ein.“ Durchgerechnet kosteten den Supermarktinhaber die Auszubildenden nur 2,93 Euro in der Stunde.

Auch bei ihrem Abschluss fühlen sich junge Menschen oft über die Ladentheke gezogen. Viele starten ihre Ausbildung mit dem Vorhaben, Einzelhandelskaufmann zu werden. Besonders im Lebensmittelhandel kommen jedoch nur wenige in den Genuss der vollen dreijährigen Ausbildung, weil der Arbeitgeber nach zwei Jahren entscheiden darf, ob er den Lehrling für geeignet hält, auch das dritte Jahr zu absolvieren. Da der Lehrling im dritten Jahr mehr mit der Theorie beschäftigt ist und weniger in der Filiale mithelfen kann, wird vielen Kandidaten schon nach zwei Jahren (mit dem Abschluss Verkäufer) schroff die Tür gewiesen. „Dabei ist die Option, das dritte Lehrjahr zu bekommen, während der ersten zwei Jahre für das Unternehmen ein hervorragendes Druckmittel“, berichtet der ehemalige Discount-Manager. Der Abschluss Einzelhandelskaufmann werde immer öfter lediglich zu einem Köder. „Genau diese Fehlentwicklung haben wir von Beginn an befürchtet“, sagt auch der Verdi-Landesfachbereichsleiter Bernhard Franke.

Aber damit nicht genug. Immer öfters arbeiten junge Menschen im Handel sogar kostenfrei. „Wem selbst die Azubis zu teuer sind, der kann auf Praktikanten zurückgreifen“, sagt der Ex-Manager. Im Rahmen der sogenannten Einstiegsqualifizierung Jugendlicher (EQJ) übernimmt nämlich die Bundesagentur für Arbeit bis zu einem Jahr die Praktikantenvergütung von monatlich 216 Euro. Das Programm soll schwer vermittelbaren Schulabgängern eine Brücke in den Lehrberuf bauen: sie sollen die Arbeitgeber in der Praxis von sich überzeugen. Niemand habe in seiner Kette eine echte Chance bekommen, berichtet der Ex-Manager. Von vornherein gehe es nur darum, die Staatsmittel einzustecken und Personalkosten zu senken. „Ich habe viele Tränen dieser jungen Menschen erlebt, denen von uns fast ein Jahr vorgegaukelt wurde, sie hätten realistische Chancen auf eine Ausbildungsstelle.“