Die „New York Times“ hat mit einem Artikel über das katastrophale Arbeitsklima bei Amazon in ein Wespennest gestochen: Immer mehr Mitarbeiter bestätigen die Kritik – und tausende empörter Kunden haben Firmenchef Jeff Bezos in die Defensive gezwungen.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Wenn das kapitalismusfreundliche „Wall Street Journal“ einen Unternehmenschef als ewiggestrigen Ausbeuter bezeichnet, dann will das etwas heißen. „Die Managementmethoden von Jeff Bezos sind seit hundert Jahren überholt“ – dies hat das von der Zeitung publizierte Blog „Marketwatch“ jetzt dem Amazon-Gründer vorgeworfen. Er propagiere die Exzesse der Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten Managementtheorie des so genannten Taylorismus: „Taylor hatte einen mechanischen Ansatz. Ihm war Effizienz viel zu wichtig und er hatte die menschliche Dimension nicht im Blick.“ Mitarbeiter seien zu Robotern gemacht worden – und das habe damals das Aufkommen der Gewerkschaften möglich gemacht. (Was man aus Sicht der Zeitung als Horrorvision interpretieren muss.)

 

Den Stein ins Rollen gebracht hat am vergangenen Wochenende ein langer und gut recherchierter Artikel der „New York Times“, der nach Gesprächen mit mehr als hundert Mitarbeitern unter anderem auch aus dem Amazon-Management von permanentem Druck und unmenschlichen Praktiken berichtete. „Bei Amazon werden die Mitarbeiter ermutigt, ihre Ideen in Meetings gegenseitig in der Luft zu zerreißen sowie lange und bis spät in die Nacht zu schuften“, heißt es dort: „Die interne Telefonliste leitet dazu an, wie man den Chefs geheimes Feedback gibt. Mitarbeiter sagen, dass dies häufig dazu genutzt wird, um andere zu sabotieren.“

Der Artikel listet reihenweise Fälle auf, wie gnadenlos Mitarbeiter, die erkrankten, oder Frauen in der Schwangerschaft behandelt wurden. Der Text beschreibt weinende Angestellte, die von ihren Chefs rücksichtslos angetrieben wurden, immer unter dem Motto, dass Amazon dazu da sei, etwas Großes zu schaffen. Jeder Mitarbeiter müsse deshalb an seine Grenzen gehen – und oft auch darüber hinaus.

„Das ist nicht das Amazon, das ich kenne“

Am Dienstagnachmittag waren mehr als 5200 meist zutiefst empörte Leserkommentare zu dem Text aufgelaufen, darunter eine vierstellige Zahl von Schwüren, nie mehr etwas bei dem Online-Giganten zu bestellen. Immer wieder wurden dort Vergleiche mit einer Sekte und kommunistischer Gehirnwäsche gezogen. Das hat nun auch den Amazon-Chef zu einer für ihn ungewöhnlichen öffentlichen Reaktion gezwungen. „Das ist nicht das Amazon, das ich kenne – und ich hoffe sehr, dass das auch für Sie der Fall ist“, schrieb Bezos unter Bezug auf den Text der New York Times in einem Brief an die Mitarbeiter.

Auf Anfang 2013 in einem Fernsehbeitrag der ARD gemachte Vorwürfe, dass unter anderem in Deutschland Lagerarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten müssten, hatte das US-Management nie persönlich reagiert. Auch dass nun die „Süddeutsche Zeitung“ im Windschatten der Geschichte der „New York Times“ negative Erfahrungen von Mitarbeitern in Deutschland aufgedeckt hat, hätte Bezos wohl kaum aufgeschreckt. Es sei üblich, dass Chefs ihre Untergebenen anschrien, zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ Mitarbeiter in Deutschland. Zum Weinen gehe man auf die Toilette. Auch gebe es eine Art Wettbewerb, wer abends als letzter nach Hause geht und auf Rundmails am Wochenende am schnellsten antwortet.

Doch der öffentliche Aufschrei in Deutschland über die knallharten Anforderungen in den Versandzentren ist längst versandet. Das Thema beherrschte über einige Wochen und Monate die Öffentlichkeit – und ermunterte letztlich auch die Gewerkschaft Verdi zum seit vielen Monaten so hartnäckigen wie ergebnislosen Versuch, über Streiks eine bessere tarifliche Einstufung der Mitarbeiter zu erzielen. Amazon bemüht sich seither zumindest fürs deutsche Publikum um Schadensbegrenzung. Inzwischen hat es sogar in einigen Versandzentren einen Tag der offenen Tür gegeben. In der Sache hat man den Gewerkschaften keinen Zentimeter nachgegeben.

Diesmal geht es nicht nur um einfache Arbeiter

Doch die Empörung über schlecht behandelte, einfache Arbeiter ganz unten beim Paketepacken hat eine andere Dimension als die schlechte Presse über das miese Klima beim Mitarbeiterstamm. „Selbst wenn solche Dinge seltene oder isolierte Ereignisse sein sollten, dann dürfen wir Null Toleranz für einen solchen Mangel an Empathie haben“, schreibt Bezos. Doch zu einer Distanzierung von den fast sektenartig formulierten Management-Denksprüchen, die letztlich die Grundlage für die laut Bezos „schäbigen“ Praktiken geliefert haben, ringt er sich nicht durch. „Führungspersönlichkeiten setzen unermüdlich hohe Standards – und viele mögen denken, dass diese Standards geradezu unvernünftig hoch sind. Führungspersonen legen die Messlatte kontinuierlich immer höher“, lautet etwa der Paragraf sechs von Amazons Führungsprinzipien.

Bezos zitiert als Gegenbeweis den im Internet geposteten Widerspruch eines Mitarbeiters zu den Thesen der „New York Times“. Auch im Artikel der Zeitung kommen Mitarbeiter zu Wort, die sagen, dass man bei der nötigen Leistungsbereitschaft bei Amazon einiges bewegen könne und auch gut bezahlt werde. Doch eine massive Solidarisierung der Mitarbeiter mit ihrem Chef oder ein Aufschrei der Empörung über eine womöglich verzerrte Darstellung der „New York Times“ sieht anders aus. Im Gegenteil: In der überquellenden Kommentarspalte bestätigen viele ehemaligen und aktuelle Mitarbeiter die Zustände. Die Kritik in seinem Heimatland, das gegenüber darwinistischen Milliardären normalerweise relativ tolerant ist, dürfte Bezos deutlich mehr weh tun als das Amazon-Bashing in Deutschland – zumal sie den Kern und das Ethos seiner Welteroberungsmission in Frage stellt.

Der Artikel trifft Amazon zu einem Zeitpunkt, in dem der Wettbewerb der Internet-Unternehmen um junge Talente sich verschärft hat. Firmen wie der TV-Anbieter Netflix versuchen etwa mit großzügigem Mutterschaftsurlaub zu punkten. Auch Google oder Facebook stehen etwa wegen der Benachteiligung von Frauen in der Kritik. Fanatische Visionäre wie Elon Musk, der das Elektroauto Tesla und die private Raumfahrt pusht, gelten ebenfalls als unmenschliche Darwinisten. Doch die Rivalen schreiben entweder solidere Gewinne als Amazon – oder sind nicht im selben Maße von der täglichen Abstimmung einer Massenkundschaft mit ihren Klicks abhängig, die problemlos andere Online-Lieferanten nutzen könnte. Bisher haben allerdings alle Boykottaufrufe Amazons Expansion nicht nachhaltig verlangsamen können – auch nicht in Deutschland.