Warum die Neandertaler ausgestorben sind, bleibt rätselhaft. Doch bei einer neuen Altersbestimmung für zahlreiche Funde stellt sich heraus, genau wann das war. Bis zu 250 Generationen lang lebten die Frühmenschen mit den modernen Menschen zusammen.

Stuttgart - Viel früher als bisweilen vermutet dürften die Neandertaler aus Europa verschwunden sein, berichten Tom Higham von der Universität Oxford und seine Kollegen im Wissenschaftsmagazin „Nature“. Bisher gab es vage Hinweise, nach denen diese Cousins des modernen Menschen weit im Süden der iberischen Halbinsel sogar bis vor 28 000 Jahren gelebt haben könnten. Mit sehr genauen Methoden aber konnten die Forscher jetzt zeigen, dass sich die Spuren der Neandertaler vor 40 000 Jahren verlieren. Vorher scheinen sie allerdings einige Jahrtausende gemeinsam mit den modernen Menschen in Europa gelebt zu haben. Damit gab es reichlich Gelegenheit, untereinander Techniken auszutauschen und vielleicht sogar gemeinsam Kinder zu zeugen.

 

Dieses Aufeinandertreffen der beiden Menschengruppen, die seit etlichen Hunderttausend Jahren eigene Wege gehen, fasziniert die Forscher seit langem. Sämtliche Analysen aber krankten unter anderem an einem Problem: Bis vor kurzem ließ sich das Alter der ohnehin eher spärlichen Funde aus dieser Zeit nur relativ ungenau bestimmen. In den vergangenen Jahren konnten verschiedene Forscher die für das Datieren von organischem Material häufig benutzte Radiokarbon-Methode vor allem für Zeiträume von mehr als 25 000 Jahren erheblich verbessern.

Obendrein zersetzen nach dem Tod eines Organismus Bakterien, Pilze und eine Reihe weiterer natürlicher „Totengräber“ die Knochen eines Tieres. Eigentlich wünschen sich Ausgräber, dass dieser natürliche Zerfall langsam vonstatten geht, damit sie viele Überreste untersuchen können. Allerdings erschweren die Bakterien und Pilze die Datierung, wenn sie den Organismus, den sie zersetzen, deutlich überleben. Ihr jüngeres Material verunreinigt die Proben der Überreste der Frühmenschen.

Auch Funde aus der Schwäbischen Alb untersucht

Spezialisten wie Tom Higham trennen mit Hilfe feiner Membranen in einer „Ultrafiltration“ genannten Methode das Bindegewebe von Knochen von solchen Verunreinigung durch Bakterien und Pilze ab. Dieses Kollagen ist nämlich in Wirbeltieren sehr häufig, kommt dagegen in Pilzen und Bakterien überhaupt nicht vor. Aus dem Bindegewebe lässt sich dann das Alter der Knochen viel besser bestimmen. „Klappt dieses Abtrennen nicht zur Zufriedenheit der Forscher, extrahieren sie aus ihren Proben die für Kollagen typischen Aminosäure-Bausteine“, erklärt William Davies von der Universität im englischen Southampton eine weitere Möglichkeit, die Verunreinigungen loszuwerden.

„Untersuchungen mit diesen Methoden geben normalerweise ein deutlich höheres Alter als früher durchgeführte Datierungen“, sagt Michael Bolus von der Universität Tübingen, der gleichzeitig in einem Projekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften forscht. Die Oxforder Forscher hatten daher gute Gründe, das Alter von Proben aus 40 Ausgrabungsstätten noch einmal zu bestimmen, die fast alle im Westen und Süden Europas liegen. Aus Mitteleuropa überließ ihnen zum Beispiel Nicholas Conard von der Tübinger Universität Fundstücke aus der Geißenklösterle-Höhle am Südrand der Schwäbischen Alb, in der Neandertaler Schutz gesucht hatten.

Meist bestanden die in Oxford untersuchten Proben aus Tierknochen, auf denen Spuren auf eine Bearbeitung durch Menschen hinweisen, die das Fleisch abtrennten und die Knochen zerschlugen, um das nahrhafte Knochenmark zu verspeisen. Die Forscher untersuchten auch einige aus Tierknochen hergestellte Werkzeuge, die eindeutig von Menschen oder Neandertalern hergestellt wurden.

Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände oder Schmuck können die Forscher anhand bestimmter Merkmale zuverlässig bestimmten Steinzeit-Industrien zuordnen. Typisch für die Neandertaler waren die mit einer bestimmten Technik hergestellten Moustérien-Werkzeuge, die sich in großen Teilen Europas von der Iberischen Halbinsel und dem Süden Englands im Westen bis an die Küste des Schwarzen Meeres im Osten finden.

Drei Steinzeit-Kulturen präzise datiert

Im heutigen Südfrankreich und Nordspanien gab es mit dem Châtelperronien einen weiteren Zweig der Steinzeit-Industrie. „Zunächst vermuteten Forscher den modernen Menschen als Hersteller dieser Werkzeuge. Inzwischen aber gibt es mehrere Fundstellen, an denen in der gleichen Schicht eindeutig Neandertalerknochen gefunden wurden“, sagt Michael Bolus.

Zwei solcher Funde mit Werkzeugen aus verschiedenen Steinzeit-Industrien und Neandertaler-Knochen haben die Oxforder Spezialisten unter die Lupe genommen: Saint Césaire in Frankreich und Lakonis auf der Halbinsel Mani im Süden des griechischen Peloponnes. Daneben haben sie mit der Uluzzien-Kultur noch eine dritte Steinzeit-Industrie untersucht, die zunächst den Neandertalern zugeordnet wurde, bis ein eindeutiger Zusammenhang mit dem modernen Menschen bewiesen wurde. Solche Funde gibt es aber nur im heutigen Italien und im Süden Griechenlands.

Als die Oxforder Forscher die Radiokarbon-Ergebnisse der 40 Fundstellen mit den geologischen Schichten verglichen, in denen die Fossilien gefunden wurden, konnten sie das Alter mit einer bisher unerreichten Genauigkeit bestimmen. Und sie stießen auf eine Überraschung: Alle drei Kulturen begannen etwa zur gleichen Zeit vor rund 45 000 Jahren und endeten vor ungefähr 40 000 Jahren, wobei die Uluzzien-Menschen ihr Handwerk eventuell ein paar Jahrhunderte länger ausübten.

Offensichtlich lebten also Neandertaler und moderne Menschen in dieser Zeit gemeinsam in Europa. Das spricht gegen die Theorie, nach der die modernen Menschen die Neandertaler verdrängten, sobald sie irgendwo auftauchten. Ganz im Gegenteil lebten in einigen Regionen längere Zeit beide Gruppen gemeinsam. Solche Übergangsperioden dauerten zwischen 25 und 250 Generationen. „In dieser Zeit hatten Neandertaler und moderne Menschen genug Gelegenheiten, ihre Techniken untereinander auszutauschen“, vermutet Nicholas Conard. Auch für zwischenmenschliche Beziehungen war reichlich Zeit.

Vor 41 000 bis 39 000 Jahren aber verschwanden die letzten Neandertaler-Industrien aus Europa. Auch auf der Iberischen Halbinsel finden die Forscher keine jüngeren Spuren. Allerdings gibt es im Süden des heutigen Spaniens auch kaum Fundstätten, die sie untersuchen konnten. Ausschließen können sie also nicht, dass einige versprengte Neandertaler länger überlebten. Und warum die Neandertaler den Kürzeren zogen, können die Forscher bisher nur vermuten. „Vielleicht arbeiteten die modernen Menschen intensiver zusammen und waren untereinander besser vernetzt“, spekuliert Michael Bolus.