Der Berliner Martin-Gropius-Bau präsentiert in der fulminanten Schau „Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ die spektakulärsten Funde der letzten zwanzig Jahre, darunter natürlich auch die Venus vom Hohle Fels.

Berlin - Der Mensch wandert. Und zwar immer. Nur deswegen konnten sich technologische und kulturelle Neuerungen verbreiten, Gesellschaften sich weiterentwickeln, mehr Menschen sich besser und gesünder ernähren. Ohne Wanderung kein zivilisatorischer Fortschritt. In einem Film der Ausstellung „Bewegte Zeiten“ im Berliner Martin-Gropius-Bau geht also ein ununterbrochener Strom von Menschen, gekleidet in die Moden von der Jungsteinzeit bis heute, über echte jungsteinzeitliche und mittelalterliche Balkenstraßen, Pflastersteine und moderne Betonplatten in eine unbekannte Zukunft. Auch auf derart elegante Weise lässt sich zeigen, dass keine Archäologie der Welt Bevölkerungen kennt, die fest mit dem Boden verwachsen sind, auf dem sie gerade leben, dass ihre Kulturen nur hier und nirgends sonst „wurzeln“ können.

 

Die Ausstellung anlässlich des Europäischen Kulturerbejahres 2018 präsentiert die spektakulärsten archäologischen Funde der letzten zwanzig Jahre aus Deutschland, und sie zeigt zugleich, dass Globalisierung kein modernes Phänomen ist, sondern seit Urzeiten Bestandteil menschlicher Gesellschaften. Wanderung, sei sie nun erzwungen als Flucht vor Not und Gewalt, sei sie Folge brutaler Vertreibung, von Verheiratung, Berufswahl, Handel, Kriegen oder auch der Sklaverei, beeinflusst das Leben seit je grundlegend. Der Aufstieg der Großstädte etwa, aber auch kleinerer Städte hat immens von Wanderungsbewegungen profitiert. Ein Beispiel ist Pforzheim, wo nach 1945 aus dem Sudetenland Vertriebene ihre Kenntnisse in der Schmuckherstellung einbrachten.

Trotzdem erzielen fremdenfeindliche Parteien aktuell hohe Wahlergebnisse. Integrationserfolge werden offenbar schnell vergessen. Auch deswegen dürfte die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ angesichts des herrschenden politischen Klimas einige Aufregung auslösen. Hier wird ein breites Panorama der seit den Zeiten des Faustkeils andauernden Migrationsbewegungen in Europa gezeigt. So brachten mehrere Einwanderungswellen aus dem Nahen Osten über Anatolien jungsteinzeitliche Bauern nach Norden, die hier neues Land suchten, bessere Lebensbedingungen, vielleicht sogar mehr Freiheit.

Archäologie ist auch Genderforschung

Auch der Blick der Wissenschaft selbst auf ihren Gegenstand verändert sich kontinuierlich. Wenn da immer wieder herrliche Schmuckstücke wie jene aus dem bei Herbertingen in Oberschwaben gefundenen Grab einer keltischen Fürstin gezeigt werden oder die Venus vom Hohle Fels, mit 35 000 Jahren die älteste bisher gefundene Frauenfigur aus Elfenbein, erscheint die Vergangenheit in neuem Licht: Welche Rolle spielten Frauen, welche Männer, wie war die Machtverteilung, wenn in einem Stammbaum vor 3000 Jahren nur die weibliche Linie vorkam? Kurz, es geht auch um Genderforschung.

Oder wir sehen Plakate, die im Raum über die Ausgrabung im Gründungsviertel der Stadt Lübeck ganz im Stil heutiger Werber für schnellentschlossene Investoren gute Geschäftschancen anbieten, wenn sie nur fix genug investieren. Gezeichnet: Heinrich der Löwe. Die Idee, dass sich Städte „organisch“ entwickeln, gehört folglich ins Reich der Legenden. Sie wurden geplant – und zwar von Anfang an. Es geht um wirtschaftliche Interessen, effiziente Transporte – ein riesiges Fass ist auch zu sehen – und Kontakte.

„Bewegte Zeiten – Archäologie in Deutschland“ ist eine großartige Ausstellung, nicht zuletzt der Inszenierung wegen, die auch Kinder begeistern kann. Es tönt hackend durch die Säle – die Jugendbauhütte aus Lübeck schlägt mit Beilen Bretter und Balken aus dicken Eichenstämmen heraus, um einen Nachbau eines mittelalterlichen Kellers fertigzustellen. Gleich zu Beginn der Schau steht man gewissermaßen mitten im römischen Hafen von Köln, vor der hoch aufragenden Stadtmauer, sieht die Mengen von Zivilisationsmüll, die sich seit römischen Zeiten angesammelt haben. Auch Verschwendung ist keine Neuerung der Moderne, ebenso wenig die Müllverwertung: Germanische Stämme sammelten den Metallschrott aus dem Römischen Reich. Und welche Finesse entwickelte der Mensch doch, um andere Menschen umzubringen: Man scheut im großflächigen Präparat des bronzezeitlichen Schlachtfelds von Tollensetal auch vor der Präsentation übel verletzter Knochen nicht zurück. Die Kanonenrohre aus dem Krieg sind nur technisch eine Fortentwicklung, zivilisatorisch aber genauso barbarisch.

Auch die Himmelsscheibe von Nebra ist dabei

Wie friedlich erscheint einem dagegen die exakte Zeitmessung mittels der Himmelsscheibe von Nebra, die gemeinsam mit den inzwischen selbst zum Mythos gewordenen, strahlenden drei bronzezeitlichen „Goldhüten“ gezeigt wird. Erst anhand der Scheibe aus Nebra hat man ihre bisher als reine Dekoration betrachteten Punzierungen und Buckel als Anzeiger für den Versuch interpretieren können, die Zeit auch kultisch zu beherrschen. Schließlich geht es immer seit der Jungsteinzeit um den richtigen Termin für die Aussaat und Ernte von Getreide.

Auffällig ist, dass die vor einem Jahrzehnt noch als hochbedeutend eingeschätzte Archäologie des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten ist. Das führt zu Lücken, die nicht hätten sein müssen. Etwa in dem Raum, in dem neben vielen anderen Wanderungsgründen auch die Sklaverei genannt wird. Hätte hier neben den historischen Fuß- und Handfesseln nicht auch eines der Fundstücke, sagen wir, vom Zwangsarbeiterlager am Berliner Columbiadamm ausgestellt werden können, in dem Italiener, Russen, Polen, Niederländer, Ukrainer oder Franzosen für den deutschen „Endsieg“ litten? Und gibt es keinen Fund aus einem der in den vergangenen Jahren gründlich untersuchten „Sonderlager“ der Roten Armee und des NKWD, das hier hätte vor Augen führen können, wie Menschen auch nach dem Krieg in die Sowjetunion und ihre Gulags verschleppt wurden?

Aber dann stehen wir vor einer Vitrine mit Uhren. Gegen Kriegsende wurden sie wohl in Brandenburg erbeutet und dann verscharrt. Ein Mensch auf der Flucht durch Europa versteckte hier anscheinend das, was ihm wertvoll erschien, und hatte nie die Gelegenheit, diesen Schatz wieder zu bergen. Zur Freude der Archäologen, die damit mehr Material gewannen, um zu zeigen: Der Mensch wandert. Immer.