Innen setzt sich das Würfelspiel fort, doch ungleich raffinierter, als die äußere Hülle erwarten lässt. In Wahrheit ist dieser rationalistische Kubus - mit seiner gleichförmig im 9-mal-9-Raster gegliederten Glasbausteinfassade ein unverkennbarer Nachfahr von Aldo Rossis Friedhof in Modena - nämlich ein eckiges Überraschungsei. Den Kern des Gehäuses bilden drei gestapelte Räume auf quadratischem Grundriss: der Veranstaltungssaal im Untergeschoss, das vier Geschosse hohe sogenannte "Herz" der Bibliothek und darüber der trichterförmig sich nach oben weitende Galeriesaal.

 

Der Veranstaltungssaal ist eine Enttäuschung, niedrig, ohne Atmosphäre, neutral. Die beiden anderen Räume dagegen haben in Stuttgart nicht ihresgleichen. Wer sich unter architektonischem Raum bisher wenig vorstellen konnte, wird es hier begreifen. Spätestens wenn er sich die Bibliotheksräume mit den gestaffelten Regalreihen im Wilhelmspalais in Erinnerung ruft, das ursprünglich für die württembergische Königsfamilie erbaut worden war, bevor es in den sechziger Jahren zur Stadtbücherei umfunktioniert wurde, geht ihm der Unterschied zwischen einem Raum als simplem Bücherbehältnis und der eigens zu diesem Zweck geschaffenen, Büchern und Besuchern eine prachtvolle Bühne bereitenden Bibliothek auf.

Der terrassierte Galeriesaal ist Architektur-Architektur, ebenso wie die Herzkammer darunter, beide aufgeladen mit bauhistorischen Bezügen, gesättigt mit Traditionsverweisen, die den Bau "in die lange Reihe seiner architektonischen Vorgänger und Vorbilder einreihen", wie Max Dudler es für sein Berliner Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum formulierte. Die Bibliothek als geistiger Ort und Hort des Wissens ist hier auf den Punkt gebracht: eine Ansammlung von Büchern, die durch den kubischen Idealraum nobilitiert wird. Louis Kahns Exeter-Bibliothek grüßt von fern, Gunnar Asplunds Stadtbibliothek von Stockholm sowieso.

Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen

Man braucht aber kein Kenner der Baugeschichte sein, um sich hineinzutrauen, schließlich handelt es sich um eine Stadtbibliothek, kein elitäres Wissenschaftsinstitut. Unverständlich ist diese Architektur keineswegs, sondern strahlend, einfach, unmittelbar und sinnlich erfahrbar. Jedem Kind muss im lichten Weiß des Galeriesaals, in den einzig die bunten Bänder der Buchrücken in den Regalen Farbe bringen, das Herz aufgehen, jeder Besucher die erhebende Wirkung dieses "vaste amphithéâtre de livres" verspüren. Der Revolutionsarchitekt Etienne-Louis Boullée wollte mit seinem Lesesaalentwurf für die Bibliothèque du roi noch die Größe der französischen Nation feiern, heute geht es um den sozialen Lese- und Lernort, das Gemeinschaftserlebnis, das beflügelnde Gefühl, in der Nähe von Büchern zusammenzukommen.

Nachts zeigt der Bibliothekskubus allerdings ein anderes Gesicht: tagsüber gedecktes Grau, hochgeschlossen, in der Dunkelheit geheimnisvolles Blau, Transparenz - ein Doppelleben, für das Eun Young Yi freundlich lächelnd den Vergleich mit Dr.Jekyll und Mr. Hyde heranzieht. Aber das erscheint denn doch reichlich weit hergeholt. So krass wie die Metamorphose von Robert Louis Stevensons Vorzeigebürger Jekyll zum üblen Sittenstrolch Hyde ist der Verwandlungsvorgang nicht.

Der Architekt will mit der Farbe eigentlich auch nur - vollkommen unsymbolisch - Lebenslust und Frische ausdrücken. Für mitteleuropäische Augen ist und bleibt Blau aber die Farbe der Romantik, der Sehnsucht und des metaphysischen Strebens nach der Unendlichkeit, die Farbe von Eichendorff und Novalis, von Chamisso und auch ein bisschen des Ironikers Heinrich Heine. Und so kann man sagen, dass die Bibliothek - deutsch-koreanische Kulturunterschiede hin oder her - als blaue Laterne bei sich selbst ankommt.

Ein eckiges Überraschungsei

Innen setzt sich das Würfelspiel fort, doch ungleich raffinierter, als die äußere Hülle erwarten lässt. In Wahrheit ist dieser rationalistische Kubus - mit seiner gleichförmig im 9-mal-9-Raster gegliederten Glasbausteinfassade ein unverkennbarer Nachfahr von Aldo Rossis Friedhof in Modena - nämlich ein eckiges Überraschungsei. Den Kern des Gehäuses bilden drei gestapelte Räume auf quadratischem Grundriss: der Veranstaltungssaal im Untergeschoss, das vier Geschosse hohe sogenannte "Herz" der Bibliothek und darüber der trichterförmig sich nach oben weitende Galeriesaal.

Der Veranstaltungssaal ist eine Enttäuschung, niedrig, ohne Atmosphäre, neutral. Die beiden anderen Räume dagegen haben in Stuttgart nicht ihresgleichen. Wer sich unter architektonischem Raum bisher wenig vorstellen konnte, wird es hier begreifen. Spätestens wenn er sich die Bibliotheksräume mit den gestaffelten Regalreihen im Wilhelmspalais in Erinnerung ruft, das ursprünglich für die württembergische Königsfamilie erbaut worden war, bevor es in den sechziger Jahren zur Stadtbücherei umfunktioniert wurde, geht ihm der Unterschied zwischen einem Raum als simplem Bücherbehältnis und der eigens zu diesem Zweck geschaffenen, Büchern und Besuchern eine prachtvolle Bühne bereitenden Bibliothek auf.

Der terrassierte Galeriesaal ist Architektur-Architektur, ebenso wie die Herzkammer darunter, beide aufgeladen mit bauhistorischen Bezügen, gesättigt mit Traditionsverweisen, die den Bau "in die lange Reihe seiner architektonischen Vorgänger und Vorbilder einreihen", wie Max Dudler es für sein Berliner Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum formulierte. Die Bibliothek als geistiger Ort und Hort des Wissens ist hier auf den Punkt gebracht: eine Ansammlung von Büchern, die durch den kubischen Idealraum nobilitiert wird. Louis Kahns Exeter-Bibliothek grüßt von fern, Gunnar Asplunds Stadtbibliothek von Stockholm sowieso.

Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen

Man braucht aber kein Kenner der Baugeschichte sein, um sich hineinzutrauen, schließlich handelt es sich um eine Stadtbibliothek, kein elitäres Wissenschaftsinstitut. Unverständlich ist diese Architektur keineswegs, sondern strahlend, einfach, unmittelbar und sinnlich erfahrbar. Jedem Kind muss im lichten Weiß des Galeriesaals, in den einzig die bunten Bänder der Buchrücken in den Regalen Farbe bringen, das Herz aufgehen, jeder Besucher die erhebende Wirkung dieses "vaste amphithéâtre de livres" verspüren. Der Revolutionsarchitekt Etienne-Louis Boullée wollte mit seinem Lesesaalentwurf für die Bibliothèque du roi noch die Größe der französischen Nation feiern, heute geht es um den sozialen Lese- und Lernort, das Gemeinschaftserlebnis, das beflügelnde Gefühl, in der Nähe von Büchern zusammenzukommen.

Architektursprachliches Pathos lässt sich am ehesten dem "Herzen" der Bibliothek bescheinigen. Noch so ein auratischer Raum. Vermutlich ist es derjenige, der am meisten Kopfschütteln in der Stadt hervorrufen wird, weil er dem praktischen Architekturverständnis des Volksstamms am meisten zuwiderläuft. Eine kubische Halle, vierzehn Meter breit, vierzehn Meter lang, vierzehn Meter hoch. Vollkommen leer, vollkommen zweckfrei. Zu nichts nütze als zum Herumgehen und Denken oder Löcher-in-die-Luft-starren, falls gerade kein Gedanke das Hirn streift. In der Mitte quillt fast unhörbar Wasser in ein ebenfalls quadratisches kleines Becken, sonst gibt es nichts, nicht einmal Stühle. Welch eine skandalöse Verschwendung, wird sich mancher denken, welch haarsträubende Unwirtschaftlichkeit!

Ja, und welch ein unerhörter Luxus, welch wunderbares Vakuum als "Gegenbeispiel" - nochmals mit Joachim Kalka gesprochen - zum medialen Rauschen, zur Überfülle der Konsumwelt jenseits der Bibliotheksmauern, in der jeder Quadratzentimeter vollgestopft ist mit Werbung und Waren. Und das in einer Stadt, die ungeniert auch noch ihre öffentlichen Plätze und Straßen für sich anschaffen lässt.

Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen. Nicht auszuschließen, dass sich mancher Besucher bald gar nicht mehr vorstellen kann, jemals ohne diese Leere ausgekommen zu sein. Vielleicht gibt es in Zukunft sogar Leute, die nur kommen, um in diesem Raum kurz durchzuatmen und vielleicht einen Blick zur Decke zu werfen, wo blau eine quadratische Laterne schimmert.

Pendler zwischen Asien und Europa

Architekt Eun Young Yi wurde 1956 in der südkoreanischen Stadt Daejeon geboren. Sein Architekturstudium absolvierte er an der Hanyang Universität in Korea und der RWTH Aachen. Danach arbeitete er ein Jahr im Büro von Oswald Mathias Ungers, dem Hauptvertreter des deutschen Rationalismus. Seit 1991 hat Yi sein eigenes Büro in Köln, seit 2000 ist er Professor an der Hanyang Universität. 2010 gewann er den Wettbewerb für den Neubau des niedersächsischen Landtags in Hannover.

Bericht Der Deutsche Bibliotheksverband hat am Donnerstag in Göttingen seinen Bericht zur Lage der Bibliotheken in Deutschland vorgestellt. Darin geht es um die wachsenden Sparanforderungen. Auch die zunehmende Bedeutung der Bibliothek als sozialer Treffpunkt und ihrer Angebote für bildungsbenachteiligte Kinder werden thematisiert.