Die Baubranche gilt als Klimasünder. Warum aber nichts mehr zu bauen, keine Lösung ist und wie das nachhaltige Umbauen verbessert werden kann, sagt Architekt Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, im Interview.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Wie und wo will die Gesellschaft leben und arbeiten? Kann das Bauen klimafreundlicher werden? Darf überhaupt noch gebaut werden? Baubranche und Architektenschaft stehen im Zentrum wichtiger gesellschaftlicher Debatten. Architekt Markus Müller, frisch wiedergewählter Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg sagt, was er von der Überregulierung bei Brandschutz und Dämmung hält, wie er zum Abrissmoratorium steht und wie sich die Arbeitswelt architektonisch ändern muss.

 

Herr Müller, um das Ziel, Deutschland mit 400 000 zusätzlichen Wohnungen jährlich zu versorgen, annähernd zu erreichen, rücken auch Umbauten stärker in den Focus. Die sind aber oft teurer als Abriss und Neubau. Architekten fordern eine „Umbauordnung“, damit sich das ändert und Umbau erleichtert wird. Bewegt sich da etwas?

Das Schlagwort „Umbauordnung“ ist ja im Wesentlichen ein Sammelbegriff für Denkmodelle, um den regulatorischen Rahmen für sparsameren Umgang mit Ressourcen neu zu definieren. Die aktuelle Diskussion bezieht sich auf Strategien, wie Bestandsgebäude oder innerstädtische Brachflächen umgenutzt werden können.

Und?

Da geht es um Regelungen im Baugesetzbuch, in der Baunutzungsverordnung, der Bundes-Immissionsschutz-Verordnung, auch der Landesbauordnung. Wir sprechen über die Frage, ob alle heutigen gesetzlichen Anforderungen zu Themen wie Brandschutz, Schallschutz, Dämmung zwingend bei dem Umbau eines alten Gebäudes angewendet werden sollten. Ich meine: nein.

Warum?

Diese Anforderungen sind ohne einen erheblichen baulichen Mehraufwand gegenüber dem Neubau im Bestand häufig nicht umsetzbar. Ein großes Thema sind die Förderstrategien für energieeffiziente Gebäude, die Effizienzziele einfordern, die in der Realität aber aus verschiedensten Gründen nicht eintreten.

Sprich, die erwünschten Energie-Einsparung tritt trotz Förderung und diverser Maßnahmen nicht ein?

Genau. Insgesamt war die Entwicklung der gesetzlichen und Förderinstrumente im Bereich der Gebäudeenergie-Effizienz eine Erfolgsgeschichte. Seit Einführung der Wärmeschutzverordnung 1990 gingen die Verbräuche im Gebäudesektor um 55 Prozent zurück. Diese Erfolgsgeschichte kommt jedoch an ihre Grenzen: weitere Einsparungen können nur noch mit vergleichsweise hohem technischen Aufwand erreicht werden. Zugleich führen „Komfortgewinne“ durch bessere Gebäudehüllflächen und geringere Lüftungswärme-Verluste zu einer Veränderung der Lebensgewohnheiten.

Inwiefern?

Wo früher wegen zugigen Fenstern ein Extra-Pulli angezogen wurde, halten sich Bewohner heute bei behaglichen Raumtemperaturen im T-Shirt in der Wohnung auf. Durch dieses Bewohnerverhalten geht ein Teil der Energieeinsparungen wieder verloren. Die rechnerisch prognostizierten Verbräuche im Bestand waren wegen des Pullis in der Realität geringer, die prognostizierten Einsparungen wegen des T-Shirts ebenso. Dieses Phänomen wird als Performance-Gap bezeichnet.

Und was passiert, damit diese „Umsetzungslücke“ geschlossen wird – außer wieder mehr Pullis zu tragen, so wie ja schon in diesem Winter wegen der Energiekrise?

Wir sehen auf politischer Seite eine große Offenheit, dies zu überprüfen und neu zu justieren. In den dreißig Jahren meiner persönlichen Berufspraxis habe ich nie eine derartige Dynamik und Bereitschaft zur Zusammenarbeit von Wissenschaft, Bauwirtschaft und Politik auf allen Ebenen erlebt. Aber klar ist auch: Wir stehen am Anfang eines Prozesses, der durch den Klimawandel in Gang gesetzt wurde, aber erst durch die Energiekrise des letzten Winters einen enormen Schub bekommen hat.

Apropos Klima: Architektur- und Umweltvertretungen haben in einem Offenen Brief an Bundesbauministerin Klara Geywitz ein Abrissmoratorium gefordert. Gebäude sollen möglichst nicht oder nur nach Genehmigung abgerissen werden dürfen, weil bei Neubauten mehr CO2 verbraucht wird als beim Umbau. Was halten Sie davon?

Offen gestanden: Nichts. Aus meiner Sicht helfen solche pauschalen Forderungen nicht weiter. Der Baubestand ist ja sehr vielfältig. Niemand wird ernsthaft in Frage stellen, dass schlecht Gebautes, nicht Funktionierendes, Hässliches, Schadstoffbelastetes, buchstäblich Im-Weg-Stehendes nicht zu Gunsten einer positiven baulichen Lösung weichen können sollte. Viel wichtiger ist doch, dass wir lernen, Bestandsgebäude sinnvoll zu analysieren und Ideen der Weiterverwendung mit hoher Planungs- und Entwurfskompetenz zu entwickeln.

Zu Gebäuden, die oft schon nach wenigen Jahrzehnten nicht weiter verwendet werden, zählen oft öffentliche Bauten, Bürogebäude. Wäre es nicht besser, solche Büros in Wohnungen umzubauen, gerade in Innenstädten, die ja auch wegen des Ladenleerstandes zu veröden drohen?

Die Renaissance der Verbindung von Wohnen und Arbeiten ist eine Jahrhundert-Chance für die Städte. Wenn wir diese Chance nutzen, entstehen neue Identifikationsorte mit hoher Lebensqualität, weil sich neue Nachbarschaften etablieren können und mit dem Wohnen anstelle der immer gleichen Konsumtempel auch Nahversorger in die Innenstädte zurückkehren, die abends noch durch die Anwohner belebt werden. Die Ideen sind formuliert: Die Bauministerinnen und Bauminister der Länder und des Bundes verfassten vor langem die „Leipzig Charta“ für die Neuentdeckung der Lebensqualität in der „europäischen Stadt“.

Und wie waren die Reaktionen?

Leider folgte den Worten keine politische Umsetzung in Form einer Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelwerke – und der außergesetzlichen Normen. Das wäre aber die Voraussetzung für eine Umgestaltung der Städte. Die Loftwohnung im Gewerbegebiet, Clusterwohnen im Kerngebiet oder, ganz konkret, auch nur die Umnutzung von Erdgeschossen in Einkaufsstraßen – all das bleibt unter den heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen ohne aufwändige Bebauungsplan-Änderungen häufig eine Illusion.

Architekt Markus Müller hofft auf eine Verbesserung der gesetzlichen Regelwerke, damit das Umbauen erleichtert wird. Foto: Felix Kaestle

Wie flexibel müssten Büro- und andere Arbeitsräume sein, damit sie optimal genutzt werden können?

Das Zeitalter monofunktionaler Strukturen ist vorbei. Das gilt übrigens nicht nur für Verwaltungen und Gewerbe, sondern auch für Wohngebäude und die sozialen Infrastrukturbauten in unserem Land. Wir wissen aus zahlreichen Forschungen: Die Vielfalt der Fähigkeiten, der Charaktere, auch der Geschlechter ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für gut funktionierende Teams. Mehrdimensionale Erfahrungen fördern die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder. Die Lebensräume – das sind Gebäude ja im Wesentlichen – müssen deshalb für unterschiedlichste Nutzungen offen sein.

Wie könnte das funktionieren?

Der Vorarlberger Architekt Dietmar Eberle hat das so beschrieben: die Grundstruktur eines Gebäudes – also Tragkonstruktion und Hülle – müssen möglichst langlebig sein, weil sie schwer zu verändern sind und den öffentlichen Raum prägen. Die technischen Einbauten sind dagegen viel kürzeren Innovationszyklen (Stichworte „Digitalisierung“ und „Energieeinsparung“) unterworfen. Der Ausbau von Gebäuden schließlich muss extrem flexibel reagieren können. Die Antwort lautet also: Arbeitsräume sollten idealerweise dieser Dreier-Formel folgen.

Häufig sind Bürogebäude gesichtslose Investorenbauten. Braucht es, um Menschen vom Homeoffice in Büros zu locken oder um gute Mitarbeiter überhaupt für die Firma zu interessieren, architektonisch ansprechendere Gebäude und wie könnten sie aussehen?

Die Entwicklung ist bereits in vollem Gange. Unser Kongress „Archikon“ am 19. April befasst sich nicht zufällig mit den Auswirkungen des Strukturwandels auf „Arbeit-Leben-Orte“. Der Wettbewerb um die klügsten Köpfe ist ein entscheidender Treiber für ein neues Qualitätsbewusstsein im Büro- und Gewerbebau. Dabei geht es nicht um ein bisschen Mode und hippes Mobiliar.

Sondern?

Es geht um substanzielle Bedürfnisse von Menschen in einer enorm anspruchsvollen und herausfordernden Arbeitswelt. Klug geführte Unternehmen beschäftigen sich sehr ernsthaft mit diesen Fragen. In den von der Architektenkammer Baden-Württemberg mit dem Label „Beispielhaftes Bauen“ ausgezeichneten Projekten finden sich zunehmend auch Firmengebäude, die New Work in diesem Sinne gestalterisch übersetzen.

Welche anderen Arbeitsorte und neue Arbeitsmodelle, die sich auch auf die Architektur auswirken, sind denn da gefragt?

Die Optionen, die eigene Arbeitsumgebung zu bestimmen, hat sich nach Corona für viele Berufsgruppen vervielfältigt. Manche Tätigkeiten können an jedem beliebigen Ort ausgeübt werden, andere allerdings auch künftig nicht. Das wird die Erwartungshaltung an gute Arbeitsplatzqualitäten erhöhen – eine überaus positive Entwicklung. Weil das Privileg, an informellen Orten zu arbeiten, nur begrenzt einlösbar ist, rücken neue Funktionen und damit die Gestaltung der „formellen“ Arbeitsumgebungen in den Fokus.

Inwiefern?

Aus dem langweiligen Bürogebäude wird eine Kommunikationsinfrastruktur für virtuelle Teams, Co-Working-Spaces bieten eine Flucht aus der Enge und Isoliertheit des Home Office. Anstatt Produktion in billigen Blechhallen zu organisieren, werden gewerbliche Arbeitsplätze menschenfreundlicher gestaltet.

Gerät generell bei der Diskussion über Nachhaltigkeit und CO2-Verringerung die Baukultur und Ästhetik zu sehr aus dem Blick?

Die Begriffsdefinition der Nachhaltigkeit umfasst neben Aspekten des Klimaschutzes ökonomische und soziale Dimensionen. In diesem Verständnis sind Gebäude, die durch eine hohe Qualität in Bezug auf Konzeption und Entwurf eine lange Lebensdauer ermöglichen, auch im engeren Sinne „nachhaltig“. Deshalb stimmt der Satz von Ministerin Nicole Razavi: „Baudenkmale sind tendenziell die nachhaltigsten Gebäude“.

Ist auch der Staat, sind die Gemeinden gefordert, gute Baukultur mit mehr als nur beratenden baukulturellen Gremien zu fördern, damit sich das für die Bauherren und Investoren auch lohnt?

Viele Kommunen fangen ebenfalls an, ihre Planungsaufgaben über das Ausweisen gesichtsloser Gewerbegebiete hinaus neu zu definieren. Auch hier gilt: Demokratien sind lernende Systeme. Ich sehe die Aufgabe des Staates darin, die Akteure in diesen Lernprozessen aktiv zu begleiten. Das kann durch entsprechende Vernetzungsangebote geschehen, auch durch Beratungen wie sie die Architektenkammer Baden-Württemberg in Kooperation anbietet oder über das gute Instrument der Städtebauförderung. Da findet vieles bereits statt.

Info

Zur Person
Markus Müller wurde 1965 in Meckenbeuren (Bodenseekreis) geboren. Der Architekt und Stadtplaner ist seit 2014 Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg. Er studierte Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart.

Kongress
Deutschlands größter Architekturkongress Archikon zu „Arbeit – Leben – Orte“ findet am 19. April 2023 von 10 bis 18.30 Uhr im ICS – Internationales Kongresszentrum Stuttgart – auf der Messe Stuttgart statt. Der Kongress wird veranstaltet von der Architektenkammer Baden-Württemberg und widmet sich einen Tag lang fundamentalen Fragestellungen, die der Strukturwandel aufwirft. 65 Referentinnen und Referenten aus Planung, Wirtschaft und Politik beleuchten das Jahresthema „Arbeit – Leben – Orte“ von allen Seiten in Impulsvorträgen, Diskussionsrunden und 20 parallel laufenden Seminaren. Mehr als 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden erwartet.