In Sydney steht das innovativste Hochhaus der Welt. Die Jury des Internationalen Hochhaus Preises 2023 kürte den Quay Quarter Tower zum Gewinner des renommierten Architekturwettbewerbs. Eine Auszeichnung, die als Symbol für eine Zeitenwende in der Architektur gelesen werden kann.
Das Hochhaus als Bautyp gehorchte seit seiner Erfindung einem ehernen Gesetz: je höher, spektakulärer, neuer, umso größer die Bewunderung für die in Glas, Stahl und Beton gegossene Kühnheit der Entwerfer. Der Quay Quarter Tower ist spektakulär. Aber – der preisgekrönte Turm ist kein Neubau. Dort, wo der Wolkenkratzer 216 Meter hoch in den australischen Himmel ragt, in der City von Sydney, hatte schon seit den 70er Jahren ein Hochhaus seinen Platz. Diesen Altbau haben die Architekten nicht abgerissen, sondern in ihren Umbau integriert. Das Baumaterial des Bestands wurde dabei teilweise wiederverwendet. Weil so zwei Drittel der Träger, Stützen und Geschossplatten sowie der komplette Kern des Altbaus erhalten wurde, konnten 12 000 Tonnen Kohlenstoff eingespart werden. Das entspricht 8000 Flügen zwischen Frankfurt und Sydney.
Umbau funktioniert auch im ganz großen Maßstab
Die Architekten des dänischen Büros 3XN beweisen: Umbau funktioniert sogar im ganz großen Maßstab. Die Wettbewerbsjury deklariert das Projekt mit ihrer Entscheidung klar zum Vorbild. Viele Hochhäuser, die im 20. Jahrhundert aus dem Boden der Metropolen gestampft wurden, sind inzwischen altersschwach, entsprechen nicht mehr den heutigen Ansprüchen. Abreißen und neu bauen – das wäre die selbstverständliche Antwort noch vor wenigen Jahren gewesen. Diese Zeiten sind vorbei. Besser gesagt: Sie müssen vorbei sein. Denn wer nur einen Funken Verantwortungsbewusstsein für die nachfolgenden Generationen und den Planeten besitzt, der weiß, dass sich die Baukultur grundlegend wandeln muss.
Rund vierzig Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen sind auf den Bau- und Gebäudesektor zurückzuführen. Laut aktuellem Emissionsbericht des deutschen Umweltbundesamts hat der Gebäudesektor zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt.
Auf jede Person kommen 490 Tonnen Baumaterial
Wie kaum ein anderer Industriezweig ist das Bauen zudem ein Ressourcenfresser. In Deutschland entstehen jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht. Was wohl kaum einer weiß: Rund 490 Tonnen Baumaterial umgibt durchschnittlich jede Person in Deutschland (weltweit sind es 115 Tonnen). Neunzig Prozent der in Deutschland entnommenen mineralischen Rohstoffe wie Sand oder Kies enden in – Gebautem. Dazu kommt der Flächenfraß. Täglich werden in Deutschland durch Neubau von Gebäuden und Infrastruktur 70 Hektar versiegelt.
Dass der Bausektor ein entscheidender Hebel im Kampf gegen Klimawandel und Erderwärmung ist, diese Erkenntnis sickert jedoch erst ganz allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein. Schon von einer „Bauscham“ gehört? Die „Flugscham“ hingegen ist längst in aller Munde.
Wer neu baut, macht die Welt ein bisschen besser?
Neubau: Das ist immer noch das alte Normal. Dem Alten, dem in die Jahre Gekommenen, wird reflexhaft der Abriss verordnet, es sei denn, der Denkmalschutz hält seine schützende Hand darüber. Denn die Erzählung geht seit der Moderne so: All jene, die neu bauen, machen die Welt ein bisschen besser. Sie schaffen Platz zum Arbeiten, Produzieren, Leben und Wohnen, und gerade an Wohnraum fehlt es heute mehr denn je. Ganz nebenbei verdienen die Hersteller und Vermarkter dieser Immobilien, ihrer Baustoffe und der begrenzten Ware Boden einen ordentlichen Batzen Geld.
Neubau sei allemal günstiger als Umbau, geht dieses Narrativ weiter, und alles, was neu erbaut wird, entspricht im Gegensatz zum vor Jahrzehnten errichteten Bestand heutigen Normen und Sicherheitsanforderungen. Und ist damit selbstredend energieeffizienter und klimafreundlicher als die schlecht gedämmten Bestandsbauten.
Genau an dem ist man angelangt, was man in Anlehnung an eine von Jean de la Fontaines berühmten Fabeln Milchmädchenrechnung nennen könnte. Denn beim Geschäft mit dem neu gebauten Raum wie auch bei der staatlichen Förderungspraxis wird bislang eines weitgehend außer Acht gelassen: Die meiste Energie fällt nicht beim Betrieb der Gebäude an, sondern beim Bau. Man spricht von der grauen Energie, die durch die Herstellung von Materialien, durch Transporte, durch den Einbau von Bauteilen benötigt wird, genauso wie bei der Entsorgung der Baustoffe nach dem Abriss. Weniger als die Hälfte des Energieaufwands, den ein Effizienzhaus 55 im Lauf von 50 Jahren erfordert, entfällt auf den Betrieb. Den deutlich größeren Teil macht die graue Energie aus. In Bestandsgebäuden, die umgebaut werden, bleibt diese graue Energie erhalten und wird durch die Verlängerung deren Lebenszeit weitergenutzt. Bei Abriss und Neubau wird sie verschwendet, neues, die Umwelt schädigendes CO2 kommt hinzu.
Mit einer neuen Umbaukultur zu mehr Nachhaltigkeit
Solche Argumente sind nachzulesen im neuen Baukulturbericht der Bundesstiftung Baukultur, die sich für Qualität in Architektur und Städtebau engagiert. In ihrem „Neue Umbaukultur“ betitelten Bericht macht sie sich vehement für ebendiese stark. In dem 152-seitigen Konvolut heißt es: „Nur mit einer klugen Umbaukultur, die die graue Energie oder vielmehr die grauen Emissionen existierender Bauten nutzt und beim Weiterbauen auf den ökologischen Fußabdruck der verwendeten Materialien achtet, ist im Bauwesen eine Nachhaltigkeit zu erreichen, die den Klima- und Umweltschutzzielen gerecht wird.“
Den Umbau zum neuen Leitbild machen, das ist, extrem verkürzt, die wichtigste Handlungsempfehlung der Stiftung. Dass Sanieren, Modernisieren, Umbauen, Reaktivieren Priorität vor Neubau haben und die Zukunft einer klimaneutralen Architektur gehören muss: Bei den Planern und ihren Verbänden und Kammern ist diese Botschaft angekommen. Der Bund Deutscher Architekten BDA etwa hat sich ihr schon vor einigen Jahren in seinem Positionspapier „Haus der Erde“ verschrieben; Initiativen wie Architects for Future engagieren sich für eine solche „Bauwende“; die Europäische Renovierungswelle, eine EU-Initiative, will die energieeffiziente Renovierung von Bestandsbauten voranbringen.
Die Politik unter Druck setzen
Kürzlich erregte das „Abrissmoratorium“ Aufsehen, das dazu aufruft, dem Erhalt von Gebäuden den Vorzug vor Abriss und Neubau zu geben, und die Politik unter Druck setzen will, Normen und Gesetze entsprechend zu ändern. Denn die Baugesetzgebung, so der Initiator Alexander Stumm, sei allzu lange von ökonomischen Akteuren wie Abfallunternehmen, mineralischen Baustoffproduzenten und Investoren in deren Sinne beeinflusst worden und fördere klar den Neubau. Dass sich die Architekturschaffenden selbst den Ast absägen, auf dem sie sitzen, wäre ein falscher Schluss. Stumm wird bei Diskussionsrunden nicht müde zu betonen, dass es nicht darum gehe, aufs Bauen zu verzichten oder gar „die Wirtschaft lahmzulegen“. Vielmehr wollen der Architekturhistoriker und seine Mitstreiter vor allem den Bewusstseinswandel schneller voranbringen. Der Klimawandel wartet nicht.
Die Industrie steuert mit
Das Erfreuliche ist: Lösungen sind auf dem Tisch. Nach Ansicht vieler Experten stellen Baunormen und Gesetze mit die größte Hürde für eine neue Umbaukultur dar. Weil bei Altbauten die heutigen Anforderungen etwa an Brand- oder Schallschutz nur schwer zu erreichen sind, hat die Option Umbau allzu oft keine Chance. Wobei das Regeldickicht, so die Kritik, eben nicht nur gewachsenen Sicherheits- und Komfortstandards geschuldet, sondern auch „industriegesteuert“ sei. Eine neue „Umbauordnung“, welche Erhalt und Umbau erleichtert, könnte Abhilfe schaffen; Architects for Future hat sie bereits in der Schublade. Auch von der Einführung einer sogenannten Gebäudeklasse E, in der experimentell, normenreduziert und kostengünstig „ohne juristische Risiken“ gebaut werden könne, erhoffen sich Architektinnen wie Liza Heilmeyer, Vorsitzende des BDA Baden-Württemberg, einen Schub für die Umbaukultur.
Eine Abrissgenehmigungspflicht gibt es bislang nicht
Entscheidend sei es, Regeln zu schaffen, die den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden in die wirtschaftliche und ökologische Bewertung einbezögen, also etwa auch die graue Energie mit einzuspeisen, sagt Heilmeyer. Dadurch käme beim Vergleich Neubau – Umbau letzterer klar in die Vorhand, argumentiert auch die Bundesstiftung Baukultur. Ein weiterer Hebel: eine Abrissgenehmigungspflicht in den Landesbauordnungen, die ökologische Aspekte abwägt. Bislang können Eigentümerinnen und Investoren rein nach ihren Interessen für oder gegen Abriss entscheiden. Statistisch würden die Abrisse nicht einmal verlässlich erfasst, kritisiert Alexander Stumm.
Die absurdesten Gebäudeabrisse
Architects for Future und die Deutsche Umwelthilfe veröffentlichten jüngst eine „Negativliste der absurdesten Gebäudeabrisse“ darunter mehrere Beispiele, wo günstiger, sanierbarer Wohnraum durch Luxus-Apartments ausgetauscht wird. Stuttgart taucht in der Auflistung nicht auf, was manchen verwundern könnte. Steht die Landeshauptstadt doch in dem beklagenswerten Ruf, ein Ort zu sein, wo Abbruch als Prima Ratio regiert. Aktuell kommt ein neuer Eintrag zur langen Verlustliste hinzu: das Kaufhof-Gebäude in Bad Cannstatt, das platt gemacht wird, obwohl noch nicht einmal der Verkauf unter Dach und Fach ist.
Dass es für die durch Onlinehandel und Pandemie siechenden Warenhaus-Komplexe ein zweites Leben geben kann – das machen andere Städte vor – etwa Recklinghausen, wo aus einem Kaufhaus ein „Markt Quartier“ wurde, das Geschäfte, Gastronomie, Seniorenwohnungen, Hotel plus Kindergarten mit Dachspielplatz beherbergt. Ein apartes Beispiel für einen Kaufhausumbau findet man derzeit in einer Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt. Mit internationalen Projekten demonstriert die Schau eindrücklich, wie bereichernd Um-, An-, Weiterbau von Bestand für die Städte und die Lebensqualität ihrer Bewohner sein kann – die Verwandlung eines Kaufhauses im brasilianischen São Paulo in ein Kulturzentrum mitsamt Open-Air-Schwimmbad auf dem Dach ist eines davon. Aus alt mach neu, mach mehr: das funktioniert auch beim Parkhaus, das in Hamburg zum Wohn- und Arbeitshaus wird, beim Stellwerk, das sich in Wiesbaden zum Jugendtreff wandelt und bei der Industrieruine, die in Aalen zum Kulturbahnhof mutiert.
Leerstand als Wohnraum nutzen
Ein großes Potenzial bietet der Gebäudebestand für den dringend gesuchten Wohnraum. Allein durch die Nutzung von Leerstand könnten laut einer aktuellen Studie vier Millionen Wohnungen hinzugewonnen werden. Ortskernen, die veröden, während die Dörfer an den Rändern durch Einfamilienhaussiedlungen ausfransen, könnte man durch revitalisierten Bestand neues Leben einhauchen. Ein- und Mehrfamilienhäuser anbauen, erweitern, aufstocken; Baumaterial von Altbauten wiederverwenden – auch dafür gibt es schon viele überzeugende Beispiele. Gleichwohl muten sie wie der viel zitierte Tropfen auf dem heißen Stein an. Denn vielfach werden in Wohnvierteln nur wenige Jahrzehnte alte Ein- bis Drei-Familienhäuser zertrümmert und von Schöner-Wohnen-Mehrfamilienprojekten im Maximalpreissegment ersetzt. So entsteht mehr Wohnraum – aber nur für Wohlhabende.
Die Architektur von morgen muss sich aus dem Bestand entwickeln
Dass sogar der Massenwohnungsbau der 1960er und 1970er Jahre durch klugen Umbau zeitgemäße Wohnqualitäten gewinnen kann, wenn man etwa Wintergärten vor die Fassade hängt, dies hat das Pariser Büro Lacaton & Vassal bewiesen – für seine Pionierleistung erhielt es den Pritzker-Preis, die weltweit höchste Auszeichnung in der Architektur. Ebenfalls eine Juryentscheidung, die nicht anders denn als Appell zu verstehen ist: Die Architektur von morgen muss den Bestand kreativ nutzen.