Das ARD-Dokudrama „Schuss in der Nacht“ erzählt in Interviews und Spielszenen vom Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Oktober 2019. Es geht auch um die Frage, ob der rechtsradikale Attentäter wirklich alleine gehandelt hat.

Stuttgart - Der Mann zittert, er schwitzt, er wirkt, als packe ihn ein Malaria-Anfall, wenn er in der polizeilichen Vernehmung davon erzählt, wie er sich durch die rechten Filterblasen geklickt hat: Überfremdung, Umvolkung, ständige Übergriffe schamloser Migranten auf wehrlose deutsche Frauen, Gräueltaten von Muslimen im In- und Ausland. Dieser Stephan Ernst (Robin Sondermann) lebte lange in einem Wahn, der ihm die Realität als unerklärten, einseitigen Bürgerkrieg zeigte. Die Deutschen – oder überhaupt: alle Weißen, alle Christen, alle Patrioten sowieso – sollten demnach ausgerottet werden.

 

Ein Fememord wie einst

Ernst wirkt im ARD-Dokudrama „Schuss in der Nacht“ nicht so, als rege er sich bei der Erinnerung an die Hetzvideos neu auf, eher, als habe er Entzugserscheinungen. Als könne er körperlich nicht damit umgehen, dass er Kriminalbeamten (Katja Bürkle und Joachim Król) gegenüber sitzt, die seine Auslassungen als Wahn abbuchen. Er braucht dringend wieder die Bestätigung seines Weltbilds, also auch die Rechtfertigung seiner Tat. Stephan Ernst ist der Mann, der am 1. Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hat: ein Fememord nach dem Vorbild jener Terrorakte von rechts, die halfen, die Weimarer Republik zu zerstören.

Der Regisseur und Co-Autor Raymond Ley arbeitet in „Schuss in der Nacht – Die Ermordung Walter Lübckes“ mit mehreren Ebenen. Mit Schauspielern stellt er Ernsts Vernehmung nach. In Rückblenden zeigt er den Radikalisierungsprozess. Im dörflichen hessischen Istha interviewt Ley Nachbarn, Vereinskameraden und Wegbegleiter von Lübcke, der sich hier sicher fühlte, auch unter jenen, die gegen Angela Merkels Aufnahmepolitik waren. Und auf einer weiteren Ebene geht Ley mit den realen Personen über das bloße Interview hinaus. Er lässt einige von ihnen jenen Text lesen, der Lübcke zum Hassobjekt der Rechtsradikalen machte.

Ein Eid auf den Rechtsstaat

Bei einer Informationsveranstaltung zur Flüchtlingsaufnahme in Lohfelden im Oktober 2015 störten aggressiv auftretende Gegner den Vortrag Lübckes, mit Zwischenrufen wie „Scheißstaat“ und „Hau ab“. Diese Krakeeler beschied Lübcke, wer die Werte dieses Landes nicht vertreten möchte, könne es jederzeit verlassen. Diese Formulierung wurde in der Folge im Netz zur Aufforderung verdreht, Deutschland zu verlassen, um Platz für unkontrollierte Einwanderung zu schaffen. Die Lesung von Lübckes Text wird zum kollektiven Eid auf Diskurs, Liberalität und Rechtsstaat, zu einer Absage gerade auch der Konservativen an Gedankengift und Gewaltbereitschaft der Radikalen.

„Schuss in der Nacht“ ist in den Interviews oft ergreifend, in den nachgestellten Szenen informativ. Die zentralen Fragen, die Ley („Letzte Ausfahrt Gera“, „Tod einer Kadettin“, „Die Aldi-Brüder“) umtreiben, kann er aber nur aufwerfen, nicht beantworten. Hatte Ernst, der sich bei den Vernehmungen in Lügen und Widersprüche verstrickte, Mittäter? War er kein Einzeltäter mit ein paar einschlägigen Bekanntschaften, sondern mit einem rechtsradikalen Untergrund vernetzt? Und gab es gar Kontakte zum Verfassungsschutz? Man merkt, dass Ley das zu gerne beweisen würde. Aber es bleibt bei Indizien und Fragwürdigkeiten.

Ausstrahlung: 4. Dezember 2020, 22.15 Uhr