Christian Schwochow inszeniert den Mauerfall mit leichter Hand: die Tragikomödie „Bornholmer Straße“ zeichnet die Ereignisse des 9. November 1989 nach.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Berlin - Oberstleutnant Harald Schäfer sitzt auf dem Klo. In seinem Darm rumort es gewaltig. Aber Dienst ist Dienst, und Schäfer geht trotz Bauchgrimmen unbeirrt seinen Pflichten an der Grenzübergangsstelle – kurz GÜST – Bornholmer Straße nach. Es ist der 9. November 1989. Das bisschen Durchfall wird sich bald als das kleinste Problem herausstellen, vor dem der Offizier, der sich in 25 Jahren zum stellvertretenden Leiter der „GÜST“ hochgedient hat, in dieser Nacht steht.

 

Denn wenige Stunden später wandelt sich dieser systemtreue Befehlsempfänger zum Helden: Schäfer, dargestellt von Charly Hübner, das ist in Wirklichkeit Harald Jäger, der Mann, der nach Günter Schabowskis berüchtigtem Gefasel von der Reisefreiheit eigenmächtig den Schlagbaum an der Bornholmer Straße öffnete – und damit das Ende der DDR besiegelte. Der ARD-Film „Bornholmer Straße“ erzählt dieses Ereignis von weltpolitischer Bedeutung aus einer heiklen Perspektive, die in dem medialen Mauerfall-Gedenk-Brimborium bisher nicht vorgekommen ist: aus der Sicht der DDR-Grenzer. Und er schlägt dabei einen überraschenden, aber nach 25 Jahren legitimen Ton an: komisch, voller Überzeichnungen und ohne jedes Pathos. „Bist aber spät dran“, tadelt ihn seine Ehefrau, als Schäfer am Morgen nach dieser unglaublichen Schicht nach Hause kommt.

Macht man über die Maueröffnung Witze? Macht man – und deshalb ist „Bornholmer Straße“ ein großartiger Film. Der Regisseur Christian Schwochow („Der Turm“) schafft es, Dramatik und Groteske spielend zu vereinen und die ganze Tragik wie auch die absurde Komik zu zeigen, die über dieser Nacht liegt, in der sich vor dem Grenzübergang 20 000 DDR-Bürger versammeln, um einen Ausflug nach Westberlin zu machen. Nur mal gucken, sagen sie, wer denkt denn an Republikflucht? Ihnen gegenüber steht eine Truppe Uniformierter, die sich in einem Moment noch um eine Packung trockener Kekse streiten, während sie im nächsten mit der existenziellen Frage konfrontiert werden, ob sie zu ihren Gewehren greifen und ein Blutbad anrichten sollen.

Ein Hündchen verirrt sich

Die Leichtigkeit, mit der zu Beginn die ganze Absurdität des DDR-Systems bloßgelegt wird, ist entwaffnend. Ein Hündchen verirrt sich auf die menschenleere GÜST – und macht rüber. Bei den 18 Grenzern schrillen alle Alarmglocken; die Jagd nach dem „Grenzverletzer“ verläuft erfolgreich, die DDR-Bürokratie fordert ihren Tribut. Ein Rapport muss geschrieben, der Delinquent verwahrt werden. Aber wie nur soll jetzt bloß die obligatorische Gesundheitsuntersuchung vonstattengehen?

Genauso entlarvend die Schockstarre, in der sich die Stasioberen befinden: Oberst Hartmut Kummer, den Schäfer telefonisch wiederholt um einen Befehl anfleht, verschanzt sich mit einer Flasche Cognac hinter seinen Telefonen, selbst auf Anweisungen wartend. Irgendwann brennen bei Kummer die Sicherungen durch – er zieht die Pistole aus der Schublade und feuert auf das Egon-Krenz-Porträt an der Bürowand.

Kummer (Ulrich Matthes) ist die einzige Figur, bei der die Karikatur zu grob gerät; Schäfers Untergebene bewahren trotz ihrer überzeichneten Schrulligkeiten – der Zollbeamte als Muttersöhnchen, der Sicherheitsoffizier als Waffennarr, der Fahndungsoffizier als Paragrafenreiter und Besserwisser – ihre Glaubwürdigkeit.

Ein Stück Familiengeschichte

Mit feinen Pinselstrichen hingegen skizzieren Buch und Regie die Ambivalenz ihres Antihelden Schäfer. Der muss erleben, dass sein gesamtes Wertesystem zusammenbricht – und besitzt doch die Größe, über sich hinauszuwachsen. Man sieht ihn mal vor Verzweiflung brüllend, dann wieder intuitive Hellsicht an den Tag legend, etwa wenn er am Pausentisch seine sich kabbelnden Männer auffordert aufzustehen und sich an den Händen zu halten, um sie zur Ruhe zu bringen. Im entscheidenden Augenblick steht er still, mit dem Rücken zur Kamera, und blickt in sich hinein, um entlang seiner eigenen, urmenschlichen Koordinaten den einzig vertretbaren Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Der Film hat da den anfangs eingeschlagenen Pfad der Groteske längst verlassen. Die Tragikomik der hilflosen Grenzer trifft auf die überzeugend in Szene gesetzte dramatische Stimmungslage direkt am Schlagbaum – aus dieser Spannung bezieht der Film seine emotionale Wucht.

„Bornholmer Straße“ ist ein Stück Familiengeschichte. Das Drehbuch haben Christian Schwochows Eltern Heide und Rainer geschrieben; sie sind Zeitzeugen der Wende, und in jener Nacht zogen sie durch Westberlin, während der elfjährige Christian in der elterlichen Wohnung in der Schönhauser Allee schlief. Das ist der eine Glücksfall dieses von Nico Hofmanns Ufa Fiction in Koproduktion mit dem MDR, RBB und der ARD Degeto verantworteten Films, weil er für die Authentizität der kleinen, aber vielsagenden Beobachtungen bürgt. Der zweite ist die durchweg glänzende Besetzung: etwa mit Milan Peschel, Ludwig Trepte, Thorsten Merten, Frederick Lau, aber vor allem mit Charly Hübner, der den inneren Zwiespalt Schäfers hinter seiner schwerfälligen Art lakonisch-minimalistisch aufscheinen lässt. Eine preiswürdige Meisterleistung.