ARD-Projekt mit Charly Hübner Die Überraschung ist echt
„Für immer Sommer 90“ ist ein sehenswertes Impro-Roadmovie mit dem umwerfenden Charly Hübner. Originell: Die ARD hat sich für zwei Ausspiel-Varianten entschieden.
„Für immer Sommer 90“ ist ein sehenswertes Impro-Roadmovie mit dem umwerfenden Charly Hübner. Originell: Die ARD hat sich für zwei Ausspiel-Varianten entschieden.
Stuttgart - Freiheit, Erfüllung, Wohlstand: Für Andy Brettschneider, den Frankfurter Investmentbanker mit mecklenburgischen Wurzeln, sind die Verheißungen der Wende aufgegangen. Er speist von Edelmetall umhüllte Steaks, kann seiner Geschäftspartnerin edles Geschmeide überreichen und steht vor einem Millionen-Deal. Doch da zieht ihm eine anonyme Vergewaltigungsanschuldigung den von Finanzgeschäften vergoldeten Boden unter den Füßen weg. „Ich habe in meinem ganzen Leben niemanden vergewaltigt!“, stellt er klar. Doch um seine Karriere zu retten, muss er, der Macher mit viel Ehrgeiz und Ego, aber wenig Sozialkompetenz, der Sache auf den Grund gehen. Könnte die Cliquen-Party zum deutschen WM-Sieg 1990 damit zu tun haben, an die er sich nur in schemenhaften Flashbacks erinnert?
Der Regisseur, Autor und Schauspieler Jan Georg Schütte wendet in „Für immer Sommer 90“ sein Improvisationskonzept auf das Genre des Roadmovies an; Lars Jessen steht ihm dieses Mal bei Regie und Buch zur Seite. Anstatt wie bislang die Impro-Fähigkeiten seines Ensembles in Kammerspielen wie „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ oder „Wellness für Paare“ herauszulocken, legt Schütte seinen neuesten Film als Stationendrama an: Andy, gespielt von Charly Hübner, eine Art Stammspieler bei den Schütte-Projekten, macht sich auf zu seinen in der Republik verstreuten Jugendfreunden, die er dreißig Jahre lang links liegen ließ. In Salzgitter trifft er etwa auf Katrin (Deborah Kaufmann), die mit zerplatzten Schauspielträumen als Arzthelferin in einer Urologenpraxis sitzt, in Neuruppin auf Sven (Roman Knizka), der ihn trotz properem Eigenheim anfleht, ihm ein paar Erfolgsbrösel abzugeben. So gerät das Roadmovie im Wiedervereinigungs-Jubiläums-Jahr 2020 zur Bilanz: Was ist aus der letzten DDR-Jugend geworden? Der historische Umbruch hat Erfolge genauso gezeitigt wie Traumata, Frustrationen, Irr- und Umwege.
Dass die Begegnungen hochgradig authentisch rüberkommen, hat mit Jan Georg Schüttes Arbeitsprinzip zu tun: „Die Schauspieler wissen nicht viel mehr als ihre Figur“, sagt der Regisseur. So habe Hübner wie ja auch die Figur Andy keine Kenntnis davon gehabt, wie es den Freunden aus der Jugendclique nach der Wende ergangen war. Und ist dementsprechend überzeugend perplex, dass etwa sein damals bester Kumpel Ronny in einem Wohnmobil haust und sichtlich von Soldaten-Erlebnissen in Afghanistan, Beziehungsenttäuschungen und Gesellschaftsfrust gezeichnet ist. „Wenn die Schauspieler selbst überrascht sind, überträgt sich das auf den Zuschauer“, sagt Schütte. Bei „Für immer Sommer 90“ habe er daher versucht, die Schauspieler vor dem Dreh auseinander zu halten, um Gespräche über Szenen und Figuren zu verhindern.
Charly Hübner, der laut Schütte die Grundidee zu dem Filmprojekt beigesteuert und auch ein Stück weit am Drehbuch mitgeschrieben hat, trumpft mit hochkonzentrierter Präsenz auf. Jede Szene sei meist nicht mehr als dreimal gedreht und dann im Schnitt verdichtet worden, erklärt Schütte. Als Impro-Highlight erweist sich eine Zufallsbekanntschaft, die den Luxus-E-Auto-Fahrer Andy, ein Leberkäse-Brötchen und einen mazedonischen Schlachthof-Arbeiter (Bozidar Kocevski) auf einer Raststätte zusammenführt. Auslöser hierfür ist übrigens die Corona-Pandemie, die in der Produktion im Hintergrund präsent ist und so die Authentizität des durch seine reduzierte Spiel-Anordnung ebenfalls Corona-konformen Projekts noch erhöht.
Originell sind die zwei Ausspielvarianten in der ARD: Mit vier Minifolgen für die Mediathek (ab 23. Dezember) will man vor allem den Sehgewohnheiten junger Zuschauer entgegenkommen; der Neunzigminüter läuft im linearen Programm (ARD, 6. Januar, 20.15 Uhr). Die Serienfolgen hätten „ein bisschen mehr Atem“, wie Schütte sagt. Also sind sie vielleicht noch einen Tick näher dran am echten Leben.