In der „Anne Will“-Talkshow nach dem letzten Corona-Gipfel von Bund und Ländern und der neuen 35er-Marke werden vor allem gegenseitige Kritik, einzelne Perspektiven und etwas Hoffnung laut.

Volontäre: Chiara Sterk (chi)

Berlin - Statt der bekannten 50er-Inzidenz gilt nun seit Mittwoch die 35, so wird es auch in einem Einspieler zu Beginn des „Anne Will“-Talks betont. Wie lange die erfüllt sein muss, bleibt unklar – laut Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) jedoch mindestens drei Tage. Ob die 35 wirklich die einzige Alternative ist, ab derer weniger harte Einschränkungen gelten, diskutieren die Gäste. Unter ihnen ein Ministerpräsident, mehrere Bundesparteivorsitzende und eine Journalistin.

 

„Als hätte man das goldene Kalb durch das goldene Kälbchen ersetzt“, bezeichnet Spiegel-Hauptstadtstudioleiterin Melanie Amann den Kurswechsel zur 35er-Inzidenz. Es mangele an Erklärung und verständlicher Sprache, kritisiert sie. Amann sieht darin das Grundproblem der gesamten Corona-Politik, wie sie es nennt, dass Politik nach dem kleinsten Nenner gemacht werde, man sich zusammenraufe zu einem Ergebnis – die anders als in anderen Politikbereichen aber nur wirke, wenn alle mitziehen.

35er-Marke als Puffer

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder war nicht überrascht über die nun geltende 35er-Marke. Das sei absehbar gewesen, nur war lange Zeit unklar, ob die Zahl erreichbar sei. Vor allem wegen der Mutation sei die Zahl 35 ein wichtiger Puffer – und entscheidend, um ein „Stop and Go“ der Maßnahmen zu verhindern. Moderatorin Anne Will stellt infrage, ob die Dynamik mit der die neue Marke kam und mit der sie auch für Ministerpräsidenten plötzlich kam, in der Bevölkerung auf Akzeptanz stoßen werde. Söder wundert sich über die Kritik der Ministerpräsidenten aus Sachsen-Anhalt und Thüringen an der Marke von 35 – schließlich stehe es so im Infektionsschutzgesetz und verweist darauf, dass der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow vor Weihnachten Fehler in seiner Einschätzung einräumte. „Die grundlegenden Einschätzungen der Kanzlerin waren richtig, notwendig und sind auch weiter notwendig“, lobt Söder Angela Merkel. Mehr begründen könne man zwar, aber darin liege die Schwierigkeit: die Mutation greifbar zu machen.

Olaf Scholz sieht in den beschlossenen Öffnungen eine Perspektive, erste Schritte dahingehend wichtig. Sind die 35 erreicht, müsse gezeigt werden, dass dann gemeinsam mit den Ländern entschieden werde. Wer wann wieder starten dürfe, findet Anne Will schwierig begründet und will wissen, wieso Friseure eine Sonderbehandlung bekommen während von der Gastronomie noch gar nicht die Rede sei. „Werden hier Grundrechte im Sinne eines politischen Gnadenmarkts gewährt?“ Das weist der Finanzminister von sich und lobt den deutschen Föderalismus. Die Diskussionen würden zu besseren Entscheidungen führen. FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner geht noch weiter, seiner Meinung nach könne mit funktionierenden Hygienekonzepten auch in anderen Bereichen gelockert werden. Die Zahl 50 halte Lindner mehr für eine politische Setzung, aber nicht mehr aktuell. Denn die Nachverfolgung betreffend, sei es inzwischen auch möglich, höhere Zahlen zurückzuverfolgen. Es komme vielmehr auf die Altersstruktur und das Gesundheitssystem an. Aman folgend bemängelt er, dass nun eine Zahl, die per se Fragen aufgeworfen habe, nun mit 35 ersetzt werde. „Da entsteht der Eindruck, dass für die gleiche Politik immer neue Argumente gesucht werden.“ Die Abwägung, bei 50 oder 35 zu lockern – und damit an einer Zahl einen flächendeckenden Lockdown festzumachen, sieht der FDP-Chef ohnehin kritisch. Am von Scholz ausgelobten Föderalismus stört sich Spiegel-Journalistin Amann, dass etwa in Bayern auch Landkreise mit Inzidenzwerten von 100 die Schulen wieder öffnen.

„Schulen sind das schwierigste Umfeld“

Grünen-Chefin Annalena Baerbock fordert vor allem eine langfristige Perspektive und kritisiert, seit Sommer „fahre man vor allem auf Sicht.“ Den Inzidenzwert auf 35 zu reduzieren, bevor man weiter öffne, sei daher gut. Die 50 galten nur, als man noch nichts von Mutanten wusste. Wichtig wäre, dass alle politischen Akteure an einem Strang ziehen – statt, dass einzelne Minister und Länder gegeneinander kämpfen. Am meisten unter die Räder der Corona-Politik gerieten dabei die Kinder. Der Bund weise seine Zuständigkeit von sich, sehe die Schulen in den Ländern in der Pflicht. Ministerpräsident Söder, der mit seiner Forderung nach einem einheitlichen Schulstart scheiterte, schließt sich Baerbock an und betont: „Schulen sind das schwierigste Umfeld.“ Seiner Ansicht nach aber klappe der Wechselunterricht gar nicht so schlecht und lobt die Lehrer – was Baerbock und Lindner mit Kopfschütteln quittieren. Die Grünen-Politikerin kritisiert, dass Kinder nicht erreicht würden, es Schnelltests und Luftfilter brauche. Eine Leitlinie für Distanzunterricht müsse zudem her, darum solle sich der Bund kümmern. Pragmatismus sei gefragt statt Verantwortungsdiffusion. Lindner pflichtet ihr in Sachen Masken, Luftfilter und Tests bei, stört sich aber an der Alternativlosigkeit der Lage. Besonders Selbsttests sehe er als große Chance, nur befürchte er die Schläfrigkeit des Impfens könne auf diese überspringen. Bei den Selbsttests gerät Finanzminister Scholz in die Kritik. Er wehrt sie ab, indem er ihre Zulassung erwähnt und auf den Gesundheitsminister verweist. Baerbock drängt den Finanzminister dabei auf schnelle Zusammenarbeit, denn nur so könne die Schulöffnung bewerkstelligt werden.

Diese Schuldzuweisung von Scholz zu Spahn sieht Amann als Problem und bemerkt überhaupt eine „Verschwimmung der Verantwortung“. Man müsse regieren statt reagieren und flächendeckend Schnelltests anbieten, wie es etwa in Österreich schon der Fall ist. Sie fordert zentrale Institutionen, eine Art Task Force, die Themen längerfristig angeht.

Lindner verweist auf Stufenpläne

Wie es weitergehen könnte, greift auch Will auf: „Gibt es hier einen klaren Plan?“ In einem weiteren Einspieler werden fünf Stufenpläne der Länder erklärt, die aber im aktuellen Beschlusspapier nur noch eine Fußnote sind. Außerdem seien am Mittwoch gar nicht alle Stufenpläne gehört wurden, vor allem Hamburg und Bayern hätten das gebremst. Die Lösung sieht Söder im schnellen konsequenten Handeln was Luftreiniger, Tests aber auch Impfstoffe für Kinder angehe. Hauptausschlaggebend sei es allerdings noch immer, Kontakte und Mobilität zu reduzieren. In den Stufenplänen sieht Lindner eine Chance und Motivation, sich an die Maßnahmen zu halten. Anstelle der „No Covid“-Initiative betont der FDP-Bundesfraktionschef regionale Regelungen – statt nur Opfer zu verlangen, solle gesellschaftliches Leben dennoch möglich sein. Alternativlos sieht Baerbock die derzeitige Situation nicht, warnt jedoch davor, die Mutationen zu unterschätzen. Und mahnt Amann folgend davor, Fehler aus der Maskenbeschaffung beim Impfen zu wiederholen – der Impfstoff müsse von jemandem koordiniert, die Kühlung organisiert und das Impfen konkret veranlasst werden. Die Spiegel-Journalistin stellt zudem eine ganz entscheidende Frage: „Was macht man, wenn am Ende des Tages nicht mehr genug Probanden da sind, aber es ist noch Impfstoff da?“

Zurück zur Bundeskanzlerin kritisiert Amann, dass sich diese in ihre Wissenschaftlichkeit zurückziehe. Lindner ergänzt: „Dass die Kanzlerin Pysikerin und der Chef des Kanzleramts Arzt ist, darin könnte natürlich auch eine Gefahr liegen, dass andere soziale und ökonomische Aspekte der Pandemiebekämpfung hinten runterfallen.“ Scholz hingegen stärkt Merkel den Rücken – auch in Sachen 35er-Marke. Dass zeitnah genügend Impfstoff vorhanden ist, ist er sich außerdem sicher – es sei die die Verteilung und das Impfen, das bewerkstelligt werden müsse. Und auch was den Osterurlaub angeht, den der sächsische Ministerpräsident Michael Kretzschmer bereits abschrieb, gibt sich Söder weniger entschieden. „Ich halte von solchen Prognosen nichts, das hängt von vielem ab.“