In der ARD-Wahlarena haben 150 Bürger Angela Merkel ihre Fragen gestellt – und der Kanzlerin mehr abgefordert als die politische Konkurrenz oder manch ein Interviewer. Für den emotionalen Höhepunkt sorgte eine Erstwählerin mit Downsyndrom.

Berlin - Aus dem Konzept hat die Kanzlerin bisher keiner der politischen Gegner bringen können. In aller Seelenruhe absolviert Angela Merkel scheinbar einen Termin am anderen. Weil es vor vier Jahren Bürgerfragen in der ARD-Wahlarena zur unterbezahlten Dauerleiharbeit oder der damals noch weit entfernten Ehe für alle waren, die die CDU-Vorsitzende ein wenig ins Straucheln brachten, richtet sich die Aufmerksamkeit am Montagabend auf die Neuauflage im Ersten. Als Gäste des aus den USA importierten „Townhall“-Formats haben sich rund 150 wahlberechtigte Bundesbürger mit Fragen bewerben können. Ihren Wahlsieg dürfte Merkel wie schon 2013 auch bei diesem Auftritt nicht verspielt haben – obwohl die Bürger mit ihren Problemen mitten aus dem Leben sie erneut mehr fordern als die parteipolitische Konkurrenz oder manch ein Interviewer.

 

Mitten hinein in die Problemzone der Union zielt ein 18-jähriger Erstwähler aus Bayern gleich zu Beginn. Er findet Merkel gut, den Bayernplan der CSU samt Obergrenze für Flüchtlinge aber nicht. Als die Kanzlerin zuerst lediglich auf das gemeinsame Regierungsprogramm der Union ohne Obergrenze verweist, hakt der junge Mann nach: „Die gleiche Situation hatten wir auch mit der Maut.“ Merkel versichert, dass es mit ihr keine feste Zahl geben werde, weil sie das „nicht für praktikabel“ hält.

„Es fehlen 100 000 Pfleger – das wird eine Katastrophe“

Bei den sozialen Themen hat die Kanzlerin einen schweren Stand. Einer Zuhörerin versichert Merkel, dass ihre betriebliche Zusatzrente künftig nicht mehr voll auf die staatliche Grundsicherung angerechnet wird, einer anderen, dass es in einer vierten Merkel-Amtszeit trotz anderslautender Aussagen ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben werde. Einer Mutter zweier Kinder, die nicht verstehen kann, dass sie in Niedersachsen viel höhere Kitagebühren zahlen muss als in anderen Bundesländern, weshalb von ihrem Lohn kaum etwas über bleibt, hat Merkel nicht sehr viel mehr anzubieten als ein Gespräch mit den Ministerpräsidenten. Tendenziell würden die Kitakosten sinken, ihre CDU will sich in den nächsten vier Jahren aber erst einmal um einen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung in der Grundschule konzentrieren.

Richtig hart geht ein junger Pflege-Azubi mit der deutschen Regierungschefin ins Gericht. Nach einem Jahr im Beruf sehe er, dass der die Menschenwürde garantierende Artikel 1 des Grundgesetzes „tagtäglich gebrochen“ werde, da viele Patienten wegen des Personalmangels oft stundenlang in ihren eigenen Ausscheidungen lägen. Die Kanzlerin sagt, der Pflegeberuf müsse attraktiver werden, was man mit der Abschaffung des Schulgeldes bereits angepackt habe; notfalls müssten Pflegekräfte aus dem EU-Ausland nach Deutschland geholt werden. In zwei Jahren, so Merkel, die von einem Hospizbesuch in ihrem Wahlkreis berichtet, werde sich die Situation hoffentlich gebessert haben. Überzeugt wirkt der junge Mann nicht, dass dies so schnell mit der Methode Merkels gelingen kann: „Es fehlen 100 000 Pflegekräfte - das wird eine Katastrophe werden.“

Türken in Deutschland sollen „ihren Weg gehen“

Schnell wird das außenpolitische Topthema dieser Tage, die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abgehandelt. Merkel will die Türken in Deutschland „ermutigen, dass sie ihren Weg gehen und sich davon nicht beeinflussen lassen“. Und sie erinnert an ihre gerade erst im TV-Duell mit SPD-Herausforderer Martin Schulz vollzogene politische Kehrtwende, dass sie nämlich wegen der „Entwicklung weg vom Rechtsstaat“ beim nächsten EU-Gipfel die Suspendierung oder den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit Ankara beraten lassen will. Dann schreiten die Moderatoren Sonia Seymour Mikich und Andreas Cichowicz ein – als Lehre aus dem Duell sollen die innenpolitischen Themen diesmal nicht zu kurz kommen.

So kommt es schnell auch zum Dieselskandal und „der Verstrickung von Politik und Wirtschaft“, die ein Mann aus Bremen beklagt. Er findet es zum Beispiel gar nicht transparent, dass Parteispenden unter 10 000 Euro gar nicht angegeben werden müssen und die zwischen 10 000 und 50 000 Euro nur mit eineinhalb Jahren Verzögerung. Angela Merkel meint den Verwurf „in jeder Form zurückweisen“ zu müssen, dass mit diesen Spenden Einfluss gekauft worden sei.

Eine Erstwählerin mit Downsyndrom konfrontiert die Kanzlerin

Die ganze Bandbreite der Gesellschaft kommt beim Thema Migration zur Sprache – am Ende wird die Kanzlerin den Münchner Wirtschaftsstudenten mit aus dem Iran stammenden Eltern, der zunehmenden Rassismus beklagt, und den Mann aus Apolda, der Angst vor „Überfremdung“ und einer Benachteiligung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen beklagt, zu einem gemeinsamen Gespräch animieren. Sie selbst versucht das AfD-Argument dadurch zu kontern, dass wegen der 2015 gekommenen Asylsuchenden „nichts, aber auch gar nichts gekürzt“ worden sei und nun auch viel Geld für die Schulen ausgegeben werde: „Ich sage zu, dass wir uns um alle kümmern, aber haben sie auch ein offenes Herz.“ Vor zwei Jahren hätte sich Deutschland, das so sehr von der Globalisierung profitiere, deren Kehrseite gezeigt – so wüssten nun eben auch von einem Diktator verfolgte Menschen in Syrien, dass es ihnen in Deutschland besser gehe.

Dass sich das Jahr 2015 nicht wiederholen werde, postuliert die Kanzlerin erneut - die Frage zum Nachzug von Flüchtlingsfamilien lässt Merkel allerdings offen. Dem jungen Mann aus München, der schon an der Bushaltestelle gefragt wurde, welcher Terrorzelle er angehöre, spricht sie Mut zu: „Lassen Sie sich den Schneid nicht abkaufen und halten Sie dagegen – es ist eine Zeit, in der wieder Mut gefordert ist.“ Jeder Mensch solle einzeln und nicht nach vermeintlichen Gruppenklischees bewertet werden: „Zum Schluss ist jeder Zweite ein bisschen komisch.“

Emotionaler Höhepunkt der Sendung, die Merkel trotz einiger für sie schwierigen Fragen mal routiniert, mal locker, mal geduldig, mal ein wenig oberlehrerhaft meistert, ist trotzdem der Auftritt einer Erstwählerin mit Downsyndrom. Sie fragt, warum solche Schwangerschaften bis kurz vor der Geburt abgebrochen werden können. „Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben.“ Die Kanzlerin erinnert sich, dass sie in der DDR nahe eines Behindertenheims aufgewachsen ist, wo nichts für die Menschen getan worden sei – mit der CDU habe sie immerhin durchgesetzt, dass nun vor solchen Abbrüchen die Eltern wenigstens drei Tage darüber nachdenken müssten. Ob ihr diese Antwort reiche, wird die junge Frau gefragt: „Ja, ich bin ein extremer Fan.“