Nach „Blue Planet“ bringt die ARD mit „Wilde Dynastien“ wieder eine BBC-Hochglanzproduktion ins Programm – und schockiert mit Tierszenen von brutaler Härte und gesellschaftspolitischer Relevanz

Stuttgart - Gleich der Auftakt der Doku-Reihe „Wilde Dynastien“ in der ARD fordert sensible Naturen heraus. Es ist Brutalo-TV, das in überwältigend nah und intensiv gefilmten Bildern nicht ausspart, was Schimpansen, Löwen & Co. in erster Linie sind: wilde Tiere. Aggressiv und kampfbereit bis aufs Blut. Die klaffende Wunde am Oberschenkel des Schimpansen David legt schockierend Zeugnis dafür ab.

 

David ist der Hauptdarsteller in der Folge „Revolte der Schimpansen“. Dass er und seine Familienmitglieder menschliche Namen tragen, entspringt keiner Laune der Dokumentarfilmer: Das Team der BBC unterstützte am Rande der Sahara Wissenschaftler, die den Objekten ihrer Beobachtungen Namen gaben. Allerdings fügt sich dieser Personalisierung in eine Entwicklung des Tierfilms ein, die dank neuer technischer Mittel immer deutlicher den Menschen im Tier herauskehrt.

In „Wilde Dynastien“ wird die Vermenschlichung auf die Spitze getrieben. Jeder Film widmet sich nur einer Tierfamilie und ihren Anführern: Schimpansen, Löwen, Tiger, Wildhunde und Pinguine. Hunderte Tage verbrachten die Filmleute in Afrika, Indien und in der Antarktis.

Liebe, Triebe, Eifersucht

In Davids Story leiden die Schimpansen unter den Folgen einer extremen Dürre. Monatelang hat es nicht geregnet, das Futter ist knapp. Die Nerven liegen blank wie bei den Bewohnern des RTL-Dschungelcamps nach zweiwöchiger Reis-und-Bohnen-Diät. Streit bricht aus, wie so oft geht es ums Weib.

Davids jüngere Rivalen mucken auf. Liebe, Triebe, Eifersucht, es kommt zum brutalen Kampf, an dessen Ende David bewusstlos am Boden liegt. Einen Finger hat er verloren, ein Oberschenkel ist aufgeschlitzt. Doch David kämpft sich zurück, „mit unglaublicher Willensstärke“, weiß Sebastian Koch, der als Erzähler die deutsche Fassung der Doku-Reihe adeln soll. Nach 45 Filmminuten hat David nicht nur seinen Thron wieder. Auch ein Sohn ist geboren, die Dynastie gerettet. Happy End.

Mit der Fokussierung auf das Alphatier ging die Produktion ein hohes Risiko ein. Was, wenn David im Kampf mit seinen Widersachern unterlegen wäre? „Dann wäre auch der Film gestorben“, sagt der Producer Rupert Barrington. Doch der Leitaffe wie Barringtons Team hielten in sengender Hitze über Monate durch, bis zum Moment des Triumphs, der nicht überschatten soll, dass das Leben dieser Wildtiere „wirklich sehr, sehr hart“ ist. Und es wird zunehmend härter.

Neue Maßstäbe im Genre Naturfilm

Als Botschaft will Barrington verstanden wissen, dass es der Mensch ist, der diesen großartigen Wildtieren ihren Lebensraum raubt. Und er hofft, damit einen ähnlich weltbewegenden Erfolg zu erreichen wie die BBC-Produktion „Blue Planet II“, die im Vorjahr in der ARD zu sehen war.

Nach einhelliger Fachmeinung setzte dieses international verkaufte Leuchtturmprogramm neue Maßstäbe im Genre Natur- und Tierfilm, nicht nur filmisch, sondern auch gesellschaftspolitisch. Die Bilder von in Plastik verhedderten Schildkröten berührten die Briten so sehr, dass angeblich 88 Prozent der Zuschauer daraufhin ihr Konsumverhalten änderten. Selbst Premierministerin Theresa May bezog sich auf die Sendereihe, um Zustimmung für ein neues Umweltschutzgesetz zu bekommen, das Plastiktüten kostenpflichtig macht. Unter dem Hashtag #OurBluePlanet befeuerte die BBC die Anti-Plastik-Debatte, und auch bei „Dynasties“ wurden die sozialen Netzwerke zur Interaktion mit dem Zuschauer genutzt.

Der, glaubt Christiane Hinz, Programmgruppenleiterin „Dokumentationen/Kultur und Geschichte“ beim WDR, fordere solch ein Engagement geradezu ein: „Der Zuschauer möchte begeistert werden mit Relevanz. Er möchte abseits schöner Bilder verifiziert bekommen, was nicht gut läuft.“ Mit „Wilde Dynastien“ traut sich die ARD nun etwas, was laut Hinz vorher in Tier- und Naturdokus undenkbar schien: eine „authentischere, brutalere, direktere“ Erzählweise. Es ist auf jeden Fall ein „Experiment“, das sich anzuschauen lohnt.