Im Polarmeer sind zunehmend Menschen unterwegs. Damit steigt auch das Risiko von Unfällen. Ein britischer Physiologe untersucht, wie Menschen im eisigen Wasser der Arktis ihre Überlebenschancen erhöhen können.

Tromsø - Das Becken war mit kaltem Wasser gefüllt, auf einer Seite standen die muskulösen Soldaten, auf der anderen die untrainierten Studenten. Welches Team würde den Kälteschock am besten verkraften? „Auf die Studenten hatte keiner gesetzt“, erinnert sich Michael Tipton, „aber sie stiegen nach einer Viertelstunde als Sieger aus dem Becken.“ Wie sich später herausstellte, erzählt der Physiologe von der britischen Universität Portsmouth verschmitzt, hatten die Studenten vor dem Experiment seine Schriften gelesen. Darin ist das richtige Verhalten in großer Kälte beschrieben.

 

Solches Wissen könnte wichtiger werden, prognostizierte Michael Tipton beim Arctic-Frontiers-Kongress in Tromsø. „Es sind immer mehr Schiffe in nördlichen Gewässern unterwegs, und das Risiko steigt, dass es zu Unfällen kommt.“ Eine Überlebensgarantie gebe es nicht, auch nicht bei optimalem Verhalten, und doch könne jeder Einzelne seine Chancen erhöhen.

„Die meisten Menschen glauben, Unterkühlung sei das größte Problem– aber das stimmt nicht“, sagt Tipton. Der agile 54-Jährige hat sein ganzes Forscherleben dem Überleben in kaltem Wasser gewidmet. Nur in 20 Prozent solcher Todesfälle, sagt er, ist eine Hypothermie die Ursache. Das ist eine starke Unterkühlung, ein Absinken der normalen Körpertemperatur von 37 Grad Celsius auf 35 Grad und darunter. Die Studien des Forscherteams um Tipton weisen jedoch in eine andere Richtung: Wirklich gefährlich ist die Kälteschockreaktion des Körpers.

Tu nichts, tu etwas, tu nichts – das ist die Regel

Die ersten Symptome kennen manche aus eigener Erfahrung: das Luftanhalten beim Eintauchen und die anschließenden schnellen, wirren Atemzüge. Wenn das unter Wasser passiert und hektische Bewegungen hinzukommen, kann es gefährlich werden. Die wichtigste Überlebensregel sei daher, von Anfang an Ruhe zu bewahren – auch gegen den inneren Widerstand, sagt Tipton: „Die Kälteschockreaktion dauert zwei bis drei Minuten, dann klingt sie ab.“ So lange werde der Körper auch ohne Schwimmweste durch die in der Kleidung gestaute Luft über Wasser gehalten. Tipton: „Man kann sich ganz darauf konzentrieren, die Atmung in den Griff zu bekommen.“ Das Wissen über den Verlauf der Reaktion helfe dabei.

Ist der Kälteschockimpuls vorbei, kann man wieder etwas Vernünftiges tun:    eine Signalrakete abfeuern, die Schwimmweste arrangieren oder zu einem Rettungsboot schwimmen. Am wenigsten kühlt dabei aus, wer die Arme dicht am Körper hält und vor allem die Beine bewegt. Nach einigen Minuten werden die Finger taub und die Kontrolle über die Gliedmaßen lässt nach. Jetzt laute die Devise: wenig bewegen und auf Hilfe warten, sagt der britische Physiologe. „Tu nichts, tu etwas, tu nichts – das ist die Regel, die man sich einprägen sollte.“

Unkenntnis im Umgang mit dem Kälteschock kostet jährlich Tausende Menschen das Leben, davon ist Michael Tipton überzeugt. Die Reaktion kann schon bei Wassertemperaturen um 25 Grad Celsius auftreten, am häufigsten wurde sie bisher aber in 10 bis 15 Grad kalten Gewässern beobachtet. Seit Jahren plädiert der Brite dafür, die einfachen Verhaltensübungen in den Schulunterricht aufzunehmen. Bis es so weit ist, macht man es am besten wie die Studenten. Denn Lesen rettet, manchmal sogar das Leben.

Tagung zur Zukunft der Arktis

Konferenz
Mit der internationalen Konferenz Arctic Frontiers soll die nachhaltige Entwicklung der Polarregion gefördert werden. Das bedeutende Forum bringt Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen – immer Ende Januar in Tromsø.

Schwerpunkt
Die diesjährige achte Arctic-Frontiers-Konferenz hatte den Schwerpunkt „Menschen in der Arktis“. Zu der fünftägigen Veranstaltung kamen mehr als tausend Teilnehmer aus 25 Ländern.