Obwohl die Coronakrise dem ursprünglichen Sinn sowie dem Konzept der Vesperkirche zusetzt, bleibt der diakonische Auftrag und damit der Wesenskern der Einrichtung unangetastet. Diakonie-Pfarrerin Gabriele Ehrmann zieht eine zufriedene Halbzeitbilanz.

S-Mitte - Die Coronakrise stellt alle auf eine harte Probe. Doch manche in der Gesellschaft erwischt es besonders hart: die Ärmsten der Armen. Also viele von den Menschen, denen in der Vesperkirche jedes Jahr ein Licht angezündet wurde. Die Vesperkirche brachte Wärme und Licht in den grauen und harten Alltag. Und jetzt? Warm sind noch die Mahlzeit und die Worte der Mitarbeiter. Aber die Türen bleiben aus Sorge vor dem Virus geschlossen. Das schmerzt alle. Die Gäste ebenso wie die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter. Bei vielen gilt daher der Mutmachspruch: „Vesperkirche to go – besser als nix.“

 

Nur Diakonie-Pfarrerin Gabriele Ehrmann will sich diesem Minimalismus nicht anschließen. „Es ist ja trotzdem ganz schön viel, was wir anbieten“, sagt sie und zeigt auf die vielen Papiertüten mit einem Vesper und einer warmen Mahlzeit, die auf ihre Empfänger warten. Alleine 370 solcher Essenspakete gehen an der Magdalenen-Kapelle der Leonhardskirche über die Theke. Die restlichen der insgesamt 600 Pakete werden an den Außenstellen verteilt: an der Marienkirche an der Tübinger Straße, an der Kirche St. Georg an der Heilbronner Straße, am Schoettle-Platz und direkt bei der Evangelischen Gesellschaft in der Büchsenstraße. „So können wir das Ganze entzerren“, sagt Ehrmann, „wenn wir hier auf einem Fleck 600 Leute gehabt hätten, wäre es wohl nicht genehmigt worden“.

Lange Schlange vor der Kirche

Wer sich an der Schlange der Wartenden vor der Leonhardskirche umhört, bekommt keine negative Rückmeldung. Klar, meinen manche, der Friseur, der Tierarzt oder die Konzerte seien schon toll gewesen, aber das Glück und die Zufriedenheit über das Essen und die raren Kontakte überwiege. Manchen, so berichtet die Diakonie-Pfarrerin, treibe es vor Dankbarkeit gar Tränen der Rührung in die Augen, wenn sie eine der 1000 Wärmflaschen bekommen. Auch Diakon Elmar Bruker berichtet von solchen Erfahrungen: „Die Leute sind einfach dankbar. Manche kommen sogar von Nagold und Herrenberg zur Vesperkirche.“ Ernüchtert ist Bruker dagegen von der Tatsache, dass er so viele der Gäste aus den vergangenen Jahren kennt. „Das bedeutet, dass sie aus ihrer Situation nicht rauskommen.“

Beratungsgespräche finden trotzdem statt

Gabriele Ehrmann beziffert die Zahl der Stammgäste auf rund 60 Prozent. Ein Drittel davon kommt bereits seit den Jahren zwischen 1995 und 2000. Aber es gibt gerade in dieser Zeit auch einige neue Gesichter. Es könnte bereits eine Folge der Pandemie sein, mutmaßt die Diakonie-Pfarrerin. Sicher ist sie indes über die grundlegende Wirkung der Krise auf die Gesellschaft: „Corona macht die Menschen, die schon arm waren noch ärmer. Die, die jetzt kommen, hatten schon vor Corona einen kleinen Geldbeutel.“ Und sie glaubt, dass die Armut nun bis in die Mittelschicht reiche. Sie selbst kenne solche Fälle. Etwa der Messebauer, der keine Arbeit mehr habe. Oder der Friseur, der nicht arbeiten dürfe.

„Es ist ganz furchtbar. Viele leben von geliehenem Geld und wissen nicht, wie sie diese Zeit überstehen können. Es ist eine Katastrophe.“ Für solche Fälle, wo die Verzweiflung um sich greift, ist das Team der Vesperkirche natürlich in vollem Umfang da. Soll heißen: Da öffnet sich sogar die Pforte der Leonhardskirche. Ehrmann hat einen Platz im Kirchenschiff eingerichtet, wo man auf Abstand und durch eine Plexiglasscheibe geschützt ins Gespräch kommen kann. Auch eine Kerze brennt an diesem Tisch. Es ist der Versuch, dem diakonischen und seelsorgerischen Auftrag wenigstens ein bisschen gerecht zu werden.

Ein bisschen? Da ist er wieder: Dieser Besser-als-nix-Spruch. Aber genau hier wird klar: In Fällen, in denen es die Not befiehlt, gibt es fast keine Kompromisse. Will man von Atemschutzmaske, Abstandsregeln und der Kunststoffscheibe absehen, wird an diesem Platz christliche Nächstenliebe ohne Grenzen gelebt. Dann ist Vesperkirche nach Ansicht von Ehrmann das, was sie schon immer war: „Ein Zuhause auf Zeit, ein Teil des gemeinsamen Weges und ein Lernort.“