Im Stuttgarter Nord, der Experimentierbühne des Schauspiels, lässt Armin Petras das Leben eines berühmten Gossenmädchens in Assoziationsstrudeln untergehen: „Lulu“, die Tragödie von Frank Wedekind in der sehr freien Bearbeitung der Tiger Lillies.

Stuttgart - Vielleicht war es ganz anders, aber so könnte es auch gewesen sein: Probengespräch zu „Lulu“. Der Regisseur erläutert dem Ensemble sein Konzept. „Lulu: total schräge Geschichte. Und wir machen uns auf die Reise zu dieser schillernden Figur, aber – wie soll ich’s sagen? – nicht im Porsche, sondern in einem alten, verbeulten, kaputten Volvo, wenn Ihr versteht, was ich meine.“ Und während der Meister so oder ähnlich vor versammelter Mannschaft laut nachdenkt, entbrennt er auch schon in heftiger Liebe zu seiner coolen Autometapher, weshalb jetzt – Ende der Spekulation – tatsächlich ein alter, verbeulter, kaputter Volvo auf der Bühne im Nord steht. Nur so. Ohne Zusammenhang zum Geschehen davor oder danach: Der Kombi taucht erst nach dem Schlussbeifall in der durchinszenierten Zugabe auf, wo die Spieler mit entfesseltem Balkan-Punk nochmals außer Rand und Band geraten dürfen.

 

Bis dahin sind auf der Experimentierbühne des Stuttgarter Schauspiels fast zwei Stunden vergangen. Aber Rätsel gab es auch vor dem überraschenden Auto-Auftritt schon genug in dieser „Lulu“, die der regieführende Intendant Armin Petras eingerichtet hat: als „Rock-Vaudeville mit Musik von The Tiger Lillies nach Frank Wedekind“, wie die düstere Revue korrekt heißt. Im Kern besteht sie also aus fünfzehn Songs, welche die besagten Tiger Lillies, die britische Kultband um den Falsett-Sänger Martyn Jacques, 2014 für die Opera North in Leeds geschrieben und aufgeführt haben. Von Wedekind bleibt in ihrer freien Bearbeitung nur die grobe Story übrig, die grelle Geschichte des Gossenmädchens Lulu, dem die Großbürger reihenweise verfallen, bis es wieder in der Gosse landet und von Jack the Ripper aufgeschlitzt wird. Das ist nicht viel, aber doch einiges mehr als jetzt bei Petras. Er lässt selbst das dürre Handlungsgerüst in wirren Assoziationsstrudeln zu Frau, Mann, Sex und anderen Verbrechen untergehen.

Gothic-Show der Triebe und Begierde

Man ahnt, worauf der Regisseur ästhetisch zielt: wieder einmal aufs Gesamtkunstwerk aus Musik, Sprache, Tanz, Bühne, Licht, Kostüme. Alle Künste sollen sich gleichberechtigt zu einem überwältigenden Bilder- und Ideenkosmos fügen, weshalb statt der fast zum Verschwinden gebrachten Wedekind-Tragödie noch Sätze von Wilhelm Müller, ein Märchen der Brüder Grimm und Textpassagen von Leo Tolstoi und Fritz Kater zu hören sind. Um genau zu sein: von Kater alias Armin Petras, der vor neun Jahren Tolstois „Anna Karenina“ für eine Inszenierung von Jan Bosse bearbeitet hat. Und recycelt wie das Textkonglomerat wirken auch die Szenen dieser gewollt schäbigen, abgefuckten, in jeglicher Hinsicht alt aussehenden Gothic-Show der Triebe und Begierde, die von einem Kirchenkreuz aus schmutzig weißem Neon überthront wird.

In der undankbaren Rolle der titelgebenden Lulu ist Sandra Gerling zu sehen. Die sonst so tolle, wandlungsfähige Spielerin ist dazu verdammt, die Choreografien von Berit Jentzsch in aller Stummheit auszuführen. Mehrmals muss sie sich zu Ravels aus dem Off eingespielten „Bolero“ bewegen, repetitiv mechanisch, wie es die Musik des Komponisten und offensichtlich auch das Lulu-Bild des Regisseurs will: das Weib als Männerpuppe und Männerfantasie, das – wenn es dann doch den Mund öffnet – stracks mit Drahtseilen gefesselt wird. Einmal erhebt selbst die stumme Gerling ihre schöne Stimme und trägt auf der Werkstattbühne von Julian Marbach das Grimm-Märchen „Allerleirauh“ vor, worin eine Prinzessin vor ihrem zudringlichen Königsvater in den Wald flieht. Das ist aber keine rettende Idee, denn niemand anders als Fuchs und Hase, die sich im finstern Tann für gewöhnlich Gute Nacht sagen, machen sich jetzt über Prinzessin Lulu her: Petras versieht seine Spieler mit Tiermasken und jagt sie in eine Szene, die in der Hitparade der Albernheiten ganz oben mitspielt. Um den ersten Platz rangeln sich dort noch zwei weitere Nummern: das Intermezzo mit den Männerwitzen und das Lesbenmanifest, mit dem sich das Publikum im Nord solidarisieren soll. Beides voll ironisch, klar, aber leider auch voll peinlich.

Augen zu, Ohren auf und durch!

Musikalisch indes zeigt sich das siebenköpfige, in bizarren Fantasiekostümen steckende Ensemble von seiner besten Seite. Miles Perkin hat die kratzigen Jahrmarktballaden der Tiger Lillies sehr originell bearbeitet, weshalb statt Akkordeon, Säge und Kastratenstimme jetzt Bass, Gitarre, Klavier, Cello und allerlei Schlagwerk den morbiden Ton angeben. Paul Grill, Ferdinand Lehmann, Andreas Leupold, André Willmund, Berit Jentzsch, Caroline Junghanns und eben Sandra Gerling: sie bilden eine hochmusikalische, Gesang und Instrumente beherrschende Combo, die aus dem Abend einen lohnenden Konzertabend machen könnte, wäre da nicht diese störende Kleinigkeit einer immer wieder aus dem Ruder laufenden Regie.

Im Nord gewinnt man den Eindruck, dass Armin Petras der Einfälle, die er gebiert, nicht Herr wird – und dass es weit und breit keine Dramaturgie gibt, die ihm in die abseitige und konzeptlose Bilderparade dieses abgestandenen Moritaten-Stadels fahren könnte oder wollte. Deshalb hilft nur eines: Augen zu, Ohren auf und durch! Dann übersteht man wenigstens halbwegs diese im kaputten Volvo zu gedanklichen Sackgassen führende, über weite Strecken englischsprachige „Lulu“.