Der Dokumentarfilm „Welt auf Abstand“ bei Arte sammelt aus aller Welt Eindrücke eines Pandemiejahres. Im Vordergrund stehen dabei nicht das Leid der Kranken oder die ökonomische Krise.

Stuttgart - Leere Straßen, leere Plätze, leere U-Bahnen und leere Klassenzimmer: Der Dokumentarfilm „Welt auf Abstand“ von Cristina Trebbi und Jobst Knigge beginnt mit einer Art Ouvertüre, einem vierminütigen Mix der Lockdown-Impressionen, in dem vereinzelt auftauchende Menschen wie mutige Exoten wirken, Versprengte in einem neuen Lebensraum. Man fragt sich dann nicht unbedingt erfreut, ob hinter dem Untertitel „Reise durch ein besonderes Jahr“ etwa das steckt: die Corona-Pandemie als ästhetische Erfahrung.

 

Völlig abgehoben erzählen Trebbi („Terra X“) und Knigge („Drei Leben – Axel Springer“) dann zwar nicht. Sie sammeln Eindrücke, und neben dem Schriftsteller aus Paris, der Tango-Tänzerin aus Buenos Aires und der Filmemacherin aus Bangalore rücken auch der Schulleiter aus Hamburg, die Krankenschwester aus Rio und der Covid-Überlebende aus Kapstadt in den Blick. Aber mehrheitlich geht es weniger um existenzielle als um geschmäcklerische Erfahrungen.

Der Klang der Sirenen

Auch wenn man die Verwandten, Freunde und Bekannten von Covid-19-Opfern als Betroffene mit einbezieht, bleibt der halbwegs direkte Kontakt mit der Krankheit eine Minderheitenerfahrung. Das ist einerseits ein Glück. Andererseits führt es zu jener aktuellen Rebellion von Egoismus, Narzissmus und Wissenschaftsfeindlichkeit, die sich als Freiheitsbewegung verkennt und den Erfolg der Vorsichtsmaßnahmen als Beweis dafür missdeutet, dass solche Maßnahmen gar nicht nötig seien.

„Welt auf Abstand“ steht seltsam schräg zu dieser gesellschaftlichen Debatte, die nur kurz aufscheint. Eine Aneinanderreihung von Bildern, auf denen Rollbahren eilends auf Rettungswagen zugeschoben werden, scheint auf jenen Kern der Pandemie zu zielen, vor dem das Gejammere über ein paar ausgefallene Feten verstummen sollte. Aber dann darf jemand erzählen, wie verstörend in der still gewordenen Stadt das Jaulen der Ambulanzsirenen klingt. Das ist zwar sofort nachvollziehbar, bekommt aber den Zungenschlag, die wahre Dimension von Corona liege in der Belästigung der Nichterkrankten.

Die angebliche Atempause

Staunen und Schauen werfen hier schöne Bilder ab, aber die fälschen eben auch. So faszinierend Momentaufnahmen von einem leeren London, einem leeren Paris sind, prägend und folgenreich für das „besondere Jahr“ war eben auch die vorsätzliche Missachtung aller Regeln durch eine lautstarke Minderheit. Einem Pariser Intellektuellen, der erstmals mangels Stadtlärm wieder Vögel hörte, mag die Pandemie tatsächlich wie eine Atempause für die Natur vorkommen. Faktisch ist das Quatsch: Der Druck auf Naherholungsgebiete etwa ist immens gewachsen, und wie viel Kleinbiotopraum in Gärten vernichtet wurde, weil sie noch aggressiver zu Freizeiträumen umgebaut wurden, muss erst noch ausgezählt werden.

Den ökonomischen Druck der Shutdown-Maßnahmen und die Existenzangst vieler Menschen kann und will dieser Dokumentarfilm nicht in den Blick nehmen. Er weidet sich am Anblick zweier Tangotänzerinnen mit Maske. Die Kamera versucht, im leeren Raum drum herum die Sehnsucht nach weiteren Tanzpaaren fassbar werden zu lassen. Aber man kann das als Partikel eines Films einfach nicht gleichwertig neben die Frage des Mannes aus Kapstadt stellen: „Wir leben in diesen winzigen Häusern. Wie soll ich mich da isolieren?“

Ausstrahlung: Arte, Mittwoch, 9. Dezember 2020, 21.50 Uhr