In einem brasilianischen Reservat werden Nördliche Spinnenaffen, die Muriquis, erforscht. Den Affen dort geht es gut, dem Reservat eher nicht: der Artenschutz kostet Geld, das offenbar fehlt. Die Affenart ist vom Aussterben bedroht.

Stuttgart - Sie lassen nicht auf sich warten, plötzlich sind sie einfach da. Freundlich fiepsend springen sie auf den dünnen, sich weit herunterbiegenden Ästen herum – etwa ein Dutzend dunkle Gestalten, die sich zunächst nur undeutlich gegen den Himmel über dem lichten Blätterdach abheben. Aber sie sind neugierig, sie kommen ohne Scheu näher, und, wenn auch ohne Teleobjektiv und Feldstecher, so schauen sie doch genauso auf die Menschen herab wie die Menschen zu ihnen hinauf. Aus sechs, acht Meter Entfernung sieht man sie genauer: ihre schwarzen, von hellbraunem Fell gesäumten Gesichter, ihre wegen der relativ nährstoffarmen Blätternahrung stets dicken Bäuche und vor allem die imposanten Greifschwänze, die die überlangen Gliedmaßen an Agilität zu übertreffen scheinen. Und die Rückenfelle der Weibchen, in die sich die Jungtiere krallen.

 

Vom Aussterben bedroht – in diese Kategorie reiht die Weltnaturschutzorganisation IUCN den Muriqui, den Nördlichen Spinnenaffen, ein. Zusammen mit seinem zoologisch nahen, geografisch ein paar Hundert Kilometer entfernten Verwandten, dem Südlichen Spinnenaffen, ist Brachyteles hypoxanthus mit seinen knapp 15 Kilo Gewicht der größte Primat der Neuen Welt. Sein Lebensraum ist der nordöstliche Teil des tropischen Küstenwaldes von Brasilien oder die acht Prozent, die davon heute noch übrig sind. Dieser Rest ist in zahllose Waldstücke zerteilt, die begrenzt sind von Städten, Straßen, Farmen, Feldern, Fluren. Inseln von Restwald, die eher Reservate als ein Lebensraum sind.

Uni Tübingen auf Exkursion zu den Muriquis

Vier Gruppen von insgesamt 330 Individuen bevölkern die knapp 1000 Hektar Wald des Feliciano-Abdala-Reservats, eines privaten Schutzgebiets neun Autostunden nördlich von Rio de Janeiro. Muriquis leben zwar noch in mindestens 18 weiteren Wäldern, aber die 330 von hier stellen etwa ein Drittel aller Muriquis Brasiliens und damit der Welt dar. Das Reservat gehört deshalb zu den Zielen der Exkursion, die das baden-württembergische Brasilien-Zentrum der Uni Tübingen alljährlich veranstaltet. Dieses Jahr ist die Exkursion Bestandteil des „Deutschland-Jahrs“ in Brasilien, einer Initiative des Auswärtigen Amtes, durch die die bestehenden Beziehungen zwischen beiden Ländern gestärkt werden sollen.

1982 kam Karen Strier, eine junge, schüchterne Zoologiestudentin, aus den USA zu Feliciano Abdala, einem Großfarmer, der Jahrzehnte zuvor Ländereien in der Gegend aufgekauft hatte. Die Muriquis hatten es ihm angetan, und der Studentin, die sie erforschen wollte, gab er alle Unterstützung. Heute ist Karen Strier Zoologieprofessorin an der Universität von Wisconsin-Madison und die international anerkannte Expertin für die Muriqui. Die Tübinger Studenten mit ihrem Dozenten Rainer Radtke haben das Glück, sie im Reservat anzutreffen und ein Muriqui-Schnellseminar zu bekommen.

Der entspannte Lebensstil der Affen

„Non-invasiv“, so nennt sie ihren Forschungsansatz: Die Tiere werden nicht gefangen, nicht markiert, aber ihr Kot wird gesammelt und analysiert – Ausgangspunkt für lange Datenreihen über ihre Physiologie, die zu ihrem Verhalten in Beziehung gesetzt werden. Striers wichtigste Erkenntnis räumte auf mit der bei Laien ebenso wie bei Fachleuten verbreiteten Vorstellung, eine ausgeprägte, aggressiv verteidigte Hierarchie der Männchen im Kampf um die Weibchen sei allen Primaten gemein. Den „typischen“ Affen gebe es nicht, so die These der Forscherin.

„Amazing animals“, wunderbare Tiere seien die Muriquis, schwärmt die Zoologin, „sie sind friedlich und egalitär, sie vermeiden Wettkampf und Unterordnung“. Überraschenderweise paaren sie sich gerne, wenn die Empfängnischancen bei den Weibchen gering sind. Strier zufolge begründet das ihren „entspannten Lebensstil“ – und „dass die Weibchen die Männchen an der Leine halten“. Warum Muriquis 40, andere Affen nur 20 Jahre Lebenserwartung haben, ist unbekannt. „Einige von ihnen kenn ich seit 32 Jahren“, sagt die Amerikanerin, deren wissenschaftliches Interesse durchaus einhergeht mit liebevoller Begeisterung für ihre Studienobjekte.

Muriquis: Putzmunter, aber vom Aussterben bedroht

Als sie kam, lebten hier rund 50 Muriquis, heute sind es an die 400. „Es gibt nicht viele Orte, wo sie so gute Überlebenschancen haben“, sagt Strier. Weil der Wald hier nur ein Fragment ist, kann sie zwar „fast wie unter Laborbedingungen forschen“, aber dennoch müsse der Wald erhalten, der Lebensraum durch ökologische Korridore ausgeweitet werden. Im Übrigen wächst die Population jetzt langsamer als früher, weil mehr Muriquis von Raubkatzen gefressen werden, die im Reservat wieder heimisch geworden sind.

So gut es den Affen im Reservat an sich gehen mag – dem Reservat geht es nicht gut. Wildhüter Roberto Pereira, der im Reservat aufgewachsen ist, bis heute da wohnt und jeden Pfad kennt, klagt, er habe seit drei Monaten kein Gehalt mehr bekommen. „Mein Großvater hat mit dem Schutz der Affen begonnen, aber heute hat niemand in der Familie mehr das Geld dazu“, sagt Ramiro Abdala. Der Enkel des Gründers ist von Beruf Pilot, er sitzt einem Verein vor, der die Geschäfte des Reservats führt. Ob das mit der Zahlungsunfähigkeit der Familie so stimmt, ist fraglich. Der 2000 verstorbene Großvater war schließlich reich. Aber auf jedenfalls fehlt eines: der Wille, Geld hineinzustecken.

Hilft Ökotourismus der Luxusklasse den Affen?

Nach dem Tod Feliciano Abdalas wandelte die Witwe den Wald in ein sogenanntes privates Naturreservat, RPPN, um. In ganz Brasilien gibt es 636 davon, mit einer geschützten Fläche von über einer halben Million Hektar. Das Modell gilt als grundsätzlich erfolgreich; die RPPN-Flächen sind praktisch auf ewig geschützt, selbst wenn sie verkauft werden. Dennoch: den stark eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten – anderen als Forschungs-, Bildungs- und Ökotourismus-Zwecken darf eine RPPN nicht dienen – stehen sehr bescheidene Steuervorteile gegenüber. Manche Privatreservate machen gutes Geld; im Pantanal, einem tierreichen Überschwemmungsland in Südwestbrasilien, organisieren viele Farmen Safaris wie in Ostafrika. Karen Strier, deren Forschungsprojekte einen gewissen Geldfluss garantieren, hält Ökotourismus der Luxusklasse für eine Lösung. Aber zurzeit hat das Muriqui-Reservat nur ein Besucherzentrum und ein paar winzige, einfache Wohnhäuser. Und jenseits der Investitionen – gibt es wirklich so viele Luxustouristen, denen der Anblick eines zwar seltenen, aber für den Laien eben doch nicht so spektakulären Affen so viel Geld wert ist?

Paulo Abdala, Farmer und einer der Söhne des Gründers, sieht das Reservat nicht nur finanziell, sondern auch ökologisch gefährdet. „Natürlich reden alle von den Muriquis“, sagt er, „aber Aguti, Paka, Pekari und die Papageien sind weitgehend verschwunden, der Bach hat kaum noch Wasser und keine Fische mehr“, schimpft er. Die Kameras, die die Raubkatzen filmen sollen, hätten über 40 wildernde Hunde festgehalten. Und die Muriquis brauchten genetischen Austausch, also müsste man die ökologischen Korridore zu anderen Populationen herstellen – ein Projekt, das bislang nur auf dem Papier steht.

Mitten durch das Reservat führt Landstraße

Paulo findet, die Gemeinde Caratinga, auf deren Gebiet das Reservat liegt, sollte die laufenden Kosten von vielleicht 7000 Euro pro Monat übernehmen. Die teilt mit, sie helfe mit Fahrzeugen und Treibstoff aus, sei aber nicht verpflichtet, ein Privatprojekt zu subventionieren. Mitten durch das Reservat der vom Aussterben bedrohten Affen führt eine Landstraße. Mopeds und alte VW-Käfer knattern den sandigen Weg entlang. „Ich habe den Kampf dagegen aufgegeben“, sagt Abdala, „die bürokratischen Hürden, die Straße sperren zu lassen, sind zu groß.“ Das Rathaus von Caratinga sieht sich nicht verantwortlich: Die Straße sei nicht öffentlich, sondern privat – die Verwaltung des Reservats dringe selbst darauf, sie offen zu halten: um die guten Beziehungen zu ihren Nachbarn zu erhalten.