Wenn die Bundesregierung bis 2020 wichtige Naturschutzziele umsetzen will, dann braucht sie mehr und größere Nationalparke. Denn vor allem dort gibt es, was viele bedrohte Tiere und Pflanzen brauchen: echte Wildnis.

Stuttgart - Deutschland verfügt seit Kurzem über 16 Nationalparke; die beiden im Schwarzwald und im Hunsrück-Hochwald sind erst 2014 und 2015 hinzugekommen. Seit 1970 im Bayerischen Wald das erste Großschutzgebiet dieser Art ausgewiesen wurde, mussten 45 Jahre vergehen, bis alle Bundesländer wenigstens ein Zipfelchen Nationalpark abbekommen – zuletzt Rheinland-Pfalz und selbst das kleine Saarland. Dieses stellt von den 101 Quadratkilometern des jüngsten Nationalparks Hunsrück-Hochwald knapp zehn Prozent. Zur Eröffnung des Parks sagte Beate Jessel, die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN), das Großschutzgebiet in der Südwestecke Deutschlands sei „vor allem wegen seiner herausragenden Lebensräume von nationaler Bedeutung“, darunter Buchen- und Eichenwälder, Blockschutthalden und Hangmoore.

 

Wer 16 Nationalparke in der Bundesrepublik für ausreichend hält, kommt vielleicht angesichts einiger Zahlen ins Grübeln: Alle Parke zusammengenommen entsprechen gerade einmal 0,6 Prozent der Landfläche Deutschlands, deutlich weniger als zum Beispiel in den Niederlanden, der Tschechischen Republik oder in Frankreich, ganz zu schweigen von Österreich, wo es etwa drei Prozent sind.

Zudem hat sich die Bundesregierung 2007 in ihrer Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 auf zwei Prozent der Fläche Deutschlands möglichst großräumige Wildnisgebiete einzurichten, in denen sich Natur ungestört entwickeln kann – was laut der Naturbewusstseinsstudie des BfN von 2013 viele Bundesbürger gutheißen würden. Zudem sollen bis 2020 auf fünf Prozent der gesamten deutschen Waldfläche naturnahe, vom Menschen nicht länger beeinflusste Wälder stocken.

Wo „die Natur noch Natur sein darf“

Fünf Prozent von Deutschlands Waldfläche entsprächen immerhin etwa 5700 Quadratkilometern – ein sehr ambitioniertes Wildnis-Schutzziel. Zum Vergleich: alle 16 Nationalparke zusammen kommen lediglich auf 2146 Quadratkilometer auf dem Festland. Wichtig zu wissen ist ferner, dass nur in den Kernbereichen der Nationalparke, den sogenannten Naturdynamikzonen, „Natur Natur sein darf“, wie es etwas hochtrabend heißt, denn vom Menschen unberührte Wildnis findet man auch dort nicht mehr – oder noch nicht wieder. Echte Wildnis gibt es in Deutschland streng genommen allenfalls noch auf wenigen, kaum zugänglichen Bergflanken und winzigen anderen Naturflächen, und selbst dorthin gelangen diverse Schad- und Nährstoffe aus menschlicher Produktion.

Im Nationalpark Schwarzwald gelten nach Angaben des BfN derzeit 33 Prozent der Fläche als Naturdynamikzone, im Nationalpark Hainich in Thüringen sind es bereits 94 Prozent; im Schnitt liegt der Flächenanteil bei gut der Hälfte des Nationalparkgebiets. Allerdings gibt es sehr naturnahe und vom Menschen nicht mehr beeinflusste Bereiche auch noch in einigen anderen Schutzgebietstypen.

Insgesamt sollen sich laut BfN die deutschen Wildnisgebiete „optimistisch geschätzt auf etwa 0,7 Prozent der Landfläche Deutschlands summieren, also auf rund 2500 Quadratkilometer. Dazu tragen nicht nur bereits halbwegs wilde Kernzonen der Nationalparke bei, sondern auch Naturwaldzellen sowie die rund 8600 meist winzigen Naturschutzgebiete hierzulande. Mancherorts muss aber regelmäßig gemäht oder das Land von Schafen beweidet werden, damit der Schutzgrund erhalten bleibt: so etwa dort, wo seltene Orchideen oder Wacholderheiden wachsen. In solchen Naturschutzgebieten geht es eher um den Erhalt bestimmter Tier- und Pflanzenarten als um den Schutz von wilder Natur. Diese würde in Deutschland fast überall Laubmischwälder aufkommen lassen.

Vor allem Wälder mit Rotbuchen müssten geschützt werden

Gemessen am Ziel, die Bundesrepublik solle bis 2020 auf zwei Prozent ihrer Fläche – mithin auf mehr als 7100 Quadratkilometern – ein wildes Land werden, sind laut BfN „erhebliche weitere Anstrengungen notwendig“. Selbst wenn alle deutschen Nationalparke auf drei Viertel ihrer Fläche sich selbst überlassen blieben, wie es die Weltnaturschutzunion (IUCN) spätestens 30 Jahre nach Gründung der Parke fordert, müssten weitere Großschutzgebiete ausgewiesen werden. Nur so lässt sich das deutsche Wildnisziel von zwei Prozent erfüllen.

Entscheidend wird dabei der Schutz nicht mehr bewirtschafteter Rotbuchenwälder sein, denn Deutschland besitzt rund ein Viertel der von Natur aus möglichen Buchenwaldareale in Europa und liegt im Zentrum des natürlichen Verbreitungsgebietes der Rotbuche. Doch während von Natur aus auf zwei Dritteln der deutschen Landfläche dieser stark humusbildende Laubbaum wüchse, ist das heute nur auf einem knappen Zwanzigstel der Fall.

In den Wäldern Deutschlands beträgt der Rotbuchen-Anteil nur noch 14 Prozent. Stattdessen wachsen dort die vielerorts nicht standortgerechten Rotfichten (28 Prozent der Waldbäume) oder gut 23 Prozent Waldkiefern. Durch die Kronen halbwegs betagter Buchen mit einem Alter von mehr als 160 Jahren rauscht der Wind hierzulande gerade einmal auf 0,27 Prozent der Landfläche. Das Fazit aus all dem: wer in Deutschland großflächig für mehr Wildnis sorgen möchte, kommt am Schutz sowie am Aufbau möglichst naturnaher Rotbuchenwälder nicht vorbei. Möglich ist dies nur in ausreichend großen Nationalparken.

Volker Scherfrose, der beim BfN für Schutzgebiete zuständig ist, zeigt sich überzeugt: „Wir brauchen in Deutschland noch mehr größere Gebiete, wo die Natur sich wirklich frei entwickeln kann.“ Dabei geht es ihm auch um die Menschen, die zunehmend in städtisch geprägten Räumen leben und naturnahe Landschaften bräuchten, „wo sie einfach mal die Seele baumeln lassen können“.

Durchblick im Dschungel der Schutzgebiete

Nationalpark
Es gibt bundesweit 16 Gebiete mit dem höchsten Schutzniveau. Sie haben eine Gesamtfläche von 10 480 Quadratkilometern, davon entfallen 2146 aufs Festland. Die Kernzonen sind tabu, für Besucher gilt dort ein Wegegebot. Nach 30 Jahren müssen 75 Prozent der Fläche sich selbst überlassen bleiben.

Naturschutzgebiet
Es gibt 8589 Gebiete mit einer Gesamtfläche von 13 413 Quadratkilometern. Das Schutzniveau ist hoch, aber es handelt sich meist nicht um Wildnis. Nachhaltige Nutzungen wie Schäferei oder Mahd sind teils erlaubt.

Biosphären-Reservat
Die Gesamtfläche (inklusive Wasser- und Wattflächen) der 16 Reservate beträgt 19 145 Quadratkilometer. Darin sollen alte Kulturlandschaften erhalten, regionales und ökologisches Wirtschaften angekurbelt werden. Die Reservate umfassen zuweilen auch Nationalparkflächen.

Naturpark
Die 104 großräumigen Parke bundesweit bestehen überwiegend aus Landschafts- oder seltener Naturschutzgebieten. Sie fördern oft den Tourismus in reizvoller Landschaft. Flächenanteil: rund 27 Prozent der deutschen Landfläche (rund 98 000 Quadratkilometer).

Landschaftsschutzgebiete
Bundesweit gibt es fast 8210; es sind eher schwach nutzungsbeschränkte Gebiete, häufig Wald. Wald bleibt darin Wald, Äcker bleiben Äcker. Ein LSG ist bei Bauvorhaben planerisch relativ leicht zu kippen.