Einst dominierte sie den Schwarzwald. Aber diese Rolle haben inzwischen die Fichten übernommen. Forstwirtschaft, Verbiss durch Rehwild und anderes haben die Weißtanne aus den Wälder weitgehend verdrängt. Porträt einer Art auf dem Rückzug.

Stuttgart - Noch immer wird es zu Weihnachten gerne gesungen, das Lied vom Tannenbaum. Und tatsächlich sind drei von vier Weihnachtsbäumen in deutschen Stuben Tannen – nur eben nicht die heimische Weißtanne (Abies alba), sondern die aus dem Kaukasus stammende Nordmanntanne (Abies nordmanniana), benannt nach dem finnischen Biologen Alexander von Nordmann (1803 ¬ 1866). Was da im Liedgut so hartnäckig grünt, muss gar nicht in jedem Fall eine Weißtanne gewesen sein. „Man nennt so auch allgemein Nadelbäume“, sagt der Pflanzenökologe Hansjörg Küster von der Universität Hannover. Mancher Weihnachtsbaumverkäufer preist zum Beispiel Rottannen an. Er meint dann die Gemeine Fichte (Picea abies), deren lateinischen Namen man mit Tannenfichte übersetzen kann.

 

Auch Kiefern werden Küster zufolge vor allem in Norddeutschland Tannen genannt, niederdeutsch „Dannen“. Erkennbar sei das an Ortsnamen, die auf alte Kiefernvorkommen verweisen, so etwa Dannenberg, Dannenwalde oder Danndorf, aber auch Tannenhausen in Ostfriesland, einem Ortsteil von Aurich. Die Weißtanne, ein Baum des Hügel- und Berglandes, kommt dort von Natur aus gar nicht vor, ebenso wenig in den Mittelgebirgen Rhön und Taunus, Eifel und Hunsrück, Pfälzer- und Odenwald – wiewohl man sie hier und da mit Erfolg ausgesät hat. Auch im Harz meinte sie der Dichter Heinrich Heine zu erkennen, als er 1824 den Brocken bestieg und dort angeblich „durch die Tannen“ schweifte. Doch auch zu Heines Zeit wuchsen auf dem Harzgipfel nur Fichten.

Im Schwarzwald von der Fichte überholt

So allgegenwärtig die Weißtanne an Weihnachten erscheint – in unseren Wäldern ist sie vielerorts selten geworden, auch im höheren Bergland und jenen Mittelgebirgen, die sie wiederbesiedelt hat, nachdem die Gletscher der jüngsten Kaltzeit sich vor etwa 10 000 Jahren zurückgezogen hatten. Während der Bayerische Wald Mitte des 19. Jahrhunderts einen Tannenanteil von etwa 24 Prozent aufwies, sind es heute noch fünf Prozent. Ihren Anteil im Schwarzwald, dem deutschen Hauptverbreitungsgebiet der Weißtanne, schätzt Wolf Hockenjos, ehemaliger Leiter des Forstamts Villingen-Schwenningen, auf etwa 20 Prozent. Das klingt nach viel, ist aber wenig im historischen Vergleich, denn es war einmal mehr als doppelt so viel. Im gesamten baden-württembergischen Wald stehen noch acht Prozent Weißtannen. 34 Prozent der Bäume sind Fichten.

Hockenjos attestiert dem einst viel häufigeren Nadelbaum – trotz Mut machender lokaler Rettungsversuche – einen „galoppierenden Rückzug“ aus den Wäldern Mitteleuropas. Mancherorts stehe die Weißtanne vor dem Aussterben. Dazu haben zeitweise nicht nur Luftschadstoffe beigetragen, auf welche die Tanne stark reagiert, besonders Schwefeldioxid, das heute aber keine große Rolle mehr spielt. Zurückgedrängt wurde sie auch von einem wenig tannenförderlichen Waldbau, der seit dem 19. Jahrhundert stark auf die schnellwüchsige Fichte sowie in jüngerer Zeit auf die nordamerikanische Douglasie gesetzt hat und noch immer setzt.

Eine Delikatesse für Rehwild

Wo drittens zu viel Rehwild durch die Wälder zieht – was hierzulande vielerorts der Fall ist –, überleben aufkommende Tannenschösslinge nur schwer. Viel eher als Rothirsche haben es vor allem Rehe auf die weichen, nicht stechenden und zudem noch schmackhaften Tannenknospen und -keimlinge abgesehen. Deshalb habe die Tanne „kaum eine Chance, statt der Fichten und Kiefern in unsere Wälder zurückzukehren“, bedauert der Ökoförster Peter Wohlleben aus Hümmel in der Eifel.

Wolf Hockenjos macht dafür die falsche Jagdpraxis verantwortlich, wenn er in seinem Buch über „Tannenbäume“ schreibt: „Weil die natürlichen Fressfeinde unserer großen Pflanzenfresser ausgerottet wurden, weil der Winter als natürlicher Regulator durch die Winterfütterung außer Kraft gesetzt wurde und weil die Jäger seitdem, entgegen den jagdgesetzlichen Forderungen, viel zu viel Wild heranhegen, werden die jungen Tannen schon ab dem Keimlingsstadium gefressen.“ Wer mehr Weißtannen will, wird also das Rehwild zurückdrängen müssen – mit der Flinte und durch das Fördern von Luchs und Wolf.

In Deutschland, wo heute nur noch jeder fünfzigste Waldbaum eine Weißtanne ist, war diese vor allem im Schwarzwald verbreitet und dort der prägende Charakterbaum. „Von Natur aus gab es im Schwarzwald Buchen-Tannen-Wälder mit etwas Ahorn – und an einigen Stellen auch wenige Fichten“, sagt der Waldkenner Hansjörg Küster. „Man kann davon ausgehen, dass die Wälder im Schwarzwald zu rund 40 Prozent aus Tannen und 40 Prozent aus Buchen bestanden.“ Mancherorts habe es sogar „fast reine Tannenwälder gegeben“. Die Weißtannen seien so charakteristisch gewesen für den Schwarzwald, „dass das ganze Gebirge nach ihnen benannt wurde“. Denn schwarz, mithin dunkel, sei ein Wald durch Nadelgehölze, und das waren in diesem Fall Weißtannen gewesen, keineswegs die im Schwarzwald bis zur frühen Neuzeit noch sehr seltenen Fichten. Sie wurden dort erst im 19. Jahrhundert im großen Stil von Förstern angepflanzt, um dem industriell bedingten Holzmangel abzuhelfen. Schon im Mittelalter, vor allem aber in der frühen Neuzeit und noch bis ins 19. Jahrhundert, hatte der Schwarzwald einen Ruf als Lieferant wertvollen Bauholzes.

Die Fichten „wuchsen ursprünglich im Schwarzwald nur an wenigen Stellen, vor allem dort, wo Frost drohte“, merkt Küster an, der sich in einem seiner Bücher mit der „Geschichte des Waldes“ intensiv beschäftigt hat. Frostig aber wird es grundsätzlich am ehesten in den höchsten Kammlagen des Mittelgebirges, vor allem aber in sogenannten Karmulden, wo sich in den Kaltzeiten der Vergangenheit Gletschereis bildete und beim Losfließen hinab ins Tal trogförmige Vertiefungen (Kare) in den Fels riss oder schürfte.

Tiefe Wurzeln finden Wasser und machen standfest

Für eine naturnahe Waldwirtschaft sind Weißtannen sehr gut geeignet, denn sie mischen sich gerne unter Laubbäume. Als Einzelbäume oder in kleinen Gruppen gehörten sie schon zu den Buchenurwäldern, wie sie in Mitteleuropa um Christi Geburt noch typisch waren und einen Großteil der Waldstandorte bedeckten.

Die Wurzeln der Weißtanne reichen sehr tief, was gleich zwei Vorteile hat, die Peter Wohlleben in seinem Buch „Menschenspuren im Wald“ betont. So kann sie zum einen mehr Wasservorräte erschließen, wodurch sie Trockenheit deutlich besser übersteht als beispielsweise die Fichte. Zum anderen sorgt dies für eine sehr gute Verankerung, was die Weißtannen wenig sturmanfällig macht. Und auch das lässt diese Baumart für die Wälder der Zukunft gut geeignet erscheinen, da der vom Menschen angefachte Klimawandel aller Voraussicht nach zu mehr und heftigeren Stürmen führen wird.

Weihnachtsbäume

Einkauf
Für Weihnachten 2014 haben deutsche Haushalte insgesamt rund 24 Millionen Christbäumen gekauft. Davon waren 73 Prozent Nordmanntannen, zehn Prozent Blaufichten, acht Prozent Rotfichten sowie je zwei Prozent Edeltannen und Waldkiefern. Die restlichen fünf Prozent waren Exoten wie die Korea-Tanne (Abies koreana), oder die Befragten wussten nicht mehr, welche Baumart sie bevorzugt hatten. Die Weißtanne spielt so gut wie keine Rolle. Das ergab im Januar 2015 eine Verbraucherbefragung im Auftrag des Bundesverbandes der Weihnachtsbaum- und Schnittgrünerzeuger (BWS).

Ernte
Etwa fünf Prozent der Weihnachtsbäume werden direkt Wäldern entnommen, etwa wenn Holzfäller Wälder bei der Waldpflege durchforsten. Dabei fallen meist Rotfichten, Kiefern oder Weißtannen an. Weihnachtsfichten gewinnt man auch, wenn Bachtäler in Naturschutzgebieten oder Nationalparken von dort nicht standortgerechten Rotfichten befreit werden.