Ihr Debüt war ein Welterfolg. Nun, zwanzig Jahre später, legt die indische Autorin Arundathi Roy ihren zweiten Roman vor: „Das Ministerium des äußersten Glücks“. In seinem Zentrum steht der Kaschmir-Konflikt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Von allem entschieden zu viel: In jedem Satz mindestens zwei neue Namen, Originalbegriffe wie exotische Gewürze mit vollen Händen über die Erzählung gestreut und ein Gewusel von Geschichten, das sich eher unter dem Begriff des Ornamentalen als unter dem einer stringent entwickelten Handlung ordnet. Ästhetisch ist Arundathi Roys neuer Roman eine Zumutung. Ähnliches freilich hat ihr Debüt „Der Gott der kleinen Dinge“ vor zwanzig Jahren nicht gehindert, ein weltweites Bestseller-Beben auszulösen. Nun also nach langer Wartezeit und vielen politischen Essays zur Lage des indischen Subkontinents „Das Ministerium des äußersten Glücks“, der zweite Roman der Aktivistin und Globalisierungskritikerin.

 

Wieder bebt die Erde, Indien boomt. „Wo Wälder gestanden hatten, schossen Wolkenkratzer und Stahlfabriken aus dem Boden, Flüsse wurden in Flaschen abgefüllt und in Supermärkten verkauft, Fisch wurde in Dosen gepackt, Berge wurden abgebaut und in glänzende Geschosse verwandelt.“ Und doch hat sich in dem riesigen Land die Lage seit 1969, als im „Gott der kleinen Dinge“ ein Zwillingspaar von den sozialen Spannungen der indischen Gesellschaft auseinandergerissen wurde, nichts zum Besseren gewandelt.

Hindus eifern gegen Muslime, Pakistanis gegen Inder, Rückständigkeit behauptet sich gegen Fortschritt, die Opfer des Chemie-Unglücks von Bhopal demonstrieren, und die alten Weißrückengeier, die seit Menschengedenken die Toten beschützen, kippen tot von den Bäumen, vergiftet von dem Rinder-Aspirin, das in den Körpern toter heiliger Kühe verdampft. Immer noch wacht ein überkommenes hierarchisches Denken darüber, dass sich nicht mischt, was die Kaste streng getrennt. Und wer sich der Ordnung der Gegensätze nicht fügt, landet auf dem Friedhof, tot oder lebendig, wie Ajum, in deren Körper Männliches und Weibliches zusammengefunden hat. Auf einem verfallenen muslimischen Gräberfeld hat sie ein Zwischenreich gegründet, das die Türe zwischen Diesseits und Jenseits spaltweit öffnet und allen Zuflucht gewährt, die gegen das strenge Grenzregime der Welt draußen rebellieren.

Zuviel Blut für gute Literatur

Dem utopischen Frieden dieses gleichsam exterritorialen Glücksministeriums entspricht nach der antagonistischen Logik des Romans der Krieg in dem wegen seiner paradiesischen Schönheit gerühmten Kaschmirtal. Eingebettet in den Grundkonflikt zwischen Indien und Pakistan liefern sich dort Freiheitskämpfer und Islamisten einen blutigen Kampf mit dem realpolitischen Kalkül der beiden verfeindeten Regierungen. Damit ist man vom Gebiet des Ästhetischen auf das des Politischen gewechselt. In einer unendlichen Gräuelserie ziehen die Folterexzesse, Massaker und Verbrechen vorbei, in die sich die indischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Aufständischen verstrickt haben.

„Ich würde gern eine dieser kultivierten Geschichten schreiben, in denen zwar nichts passiert, aber es trotzdem viel gibt, worüber man schreiben kann“, ist im Notizbuch des Alter Egos der Erzählerin, einer gewissen Tilomatta, zu lesen. Mit Arundathi Roy hat sie manches biografische Detail gemein, und in ihrem Liebesleben mit einem wendigen Journalisten, einem Diener des Regimes und einem Rebellen bricht sich die Perspektive auf das, was aus jungen Leuten im modernen Indien werden kann. Kultivierte Geschichten zu schreiben sei in Kaschmir nicht möglich, heißt es in dem Notizbuch weiter, denn: „Es gibt zu viel Blut für gute Literatur.“

Seitenweise werden Leichen literarisch obduziert. Und wie zu Beginn die Erzählung unter dem ästhetischen Ballast der ans Folkloristische grenzenden Reizüberflutung gefährlich ächzt, bricht sie unter der exzessiven Last der zeitgenössischen indischen Katastrophen in sich zusammen.

Unter den Bruchstücken finden sich einzelne, bewegende Szenen, scharfe politische Momentaufnahmen, aber auch manch verschwommener Ethnokitsch. Dass das Ausmaß des Leids jede Form sprengt, könnte man der Kompromisslosigkeit zugutehalten, mit der sich die Autorin der Wirklichkeit stellt. Doch vielleicht lastet ein anderer Druck noch bedrohlicher auf dem Buch: der Druck des zweiten Romans.

Auch wenn Arundathi Roy sich zwanzig Jahre Zeit gelassen hat, wirkt vieles unentschieden. Die mythisch-zeitlose Welt auf dem Friedhof liegt mit der radikalen Zeitgenossenschaft der politischen Aktivistin im Zwist, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Hier der Versuch, die hochgetunte Vital-Poesie ihres Booker-Preis-prämierten Erfolgsromans noch schrill zu überbieten, dort die unbearbeiteten rohen Fakten. So tobt in diesem gegen jegliche Form der Ausschließung und Entzweiung opponierenden Roman selbst ein ungelöster Konflikt. Dass zu seinen Opfern der Leser zählt, lässt sich angesichts der schlimmen Dinge, die hier verhandelt werden, noch am ehesten verschmerzen.