Astrid Lindgrens Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945 werfen ein neues Licht auf ihre Arbeit: In der permanenten Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch ist sie zu einer alles andere als harmlosen Kinderbuchautorin geworden.

Stuttgart - Im Jahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg, und die Erde wurde von der Hitlerei befreit. Es war auch das Jahr, in dem ein wildes Mädchen die literarische Bühne betrat, elternlos, selbstbestimmt, mit starker Moral, sehr lustig, aber irgendwie auch ganz schön ernst. Pippi Langstrumpf, erdacht von der schwedischen Autorin Astrid Lindgren auf Wunsch ihrer damals siebenjährigen, häufig kränkelnden, nervösen Tochter Karin, scheint der radikale Gegenentwurf zu all den patriarchalischen, bösartigen Männern, die Europa verwüstet, Millionen Menschen umgebracht und alle Werte auf den Kopf gestellt hatten. „Was für ein Hass wird entstehen!“, notierte Lindgren nach Kriegsbeginn 1940 in ihrem Tagebuch, das sie zwischen 1939 und 1945 führte, in eben den Jahren, in denen sie auch ihre längst viele Millionen mal verkaufte Geschichten über das elternlose, die Gerechtigkeit mit Witz und Sturheit verteidigende Kind aufschrieb. „Die Welt muss am Ende so voller Hass sein, dass wir allesamt daran ersticken.“ Sie verzweifelt fast an solchen Gefühlen, sie sucht Zuflucht im Schreiben, in Erinnerung und Fantasie. Und findet dabei ihren so eigenen, ebenso sensiblen wie nüchtern-mutterwitzigen Ton.

 

„Ich amüsiere mich gegenwärtig mächtig mit Pippi Langstrumpf“, heißt es am 20. März 1944. Kurz zuvor hat sie festgehalten, dass sich die russischen Truppen der lettischen Grenze genähert haben. Heiter ist Lindgren in ihrer Friedensoase nicht zu Mute, dafür leidet sie zu sehr mit den rings um sie herum von Krieg und Zerstörung Betroffenen, mit Müttern und Kindern vor allem. Im Tagebuch wechseln sich detailgenaue Betrachtungen zum Essen („am Karsamstag wie üblich Eier und Schnittchen, hausgemachte Leberpastete, Heringssalat . . .“), Radfahrten durch milde Frühlingsluft, Alltagssorgen („an der Heimatfront hat Karin die Masern gehabt . . .“) mit bedrückenden Neuigkeiten ab. „Heute Morgen um halb 5 haben deutsche Truppen die russische Grenze überschritten, in Rumänien“. Währenddessen reift Pippi heran, ein rotbezopftes, sommersprossiges Mädchen, stark nicht durch Gewalt, sondern durch Großzügigkeit und Humor.

Chronistin einer dunklen Zeit

Astrid Lindgrens Aufzeichnungen, sind jetzt, siebzig Jahre nach Kriegsende, und zum siebzigsten Geburtstag von Pippi Langstrumpf erst in ihrer Heimat Schweden und nun auch auf Deutsch, unter dem Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren“ erschienen. Mit zahlreichen Faksimiles und Fotos versehen, dokumentieren sie so ganz nebenbei, wie die gelernte Journalistin und Stenotypistin im weitgehend verschonten Schweden in der permanenten Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch zu einer alles andere als harmlosen Kinderbuchautorin geworden ist.

Die Biographen Margareta Strömstedt, Birgit Dankert und zuletzt zu Beginn dieses Jahres der Däne Jens Andersen haben bereits auf diesen Zusammenhang hingewiesen, und Astrid Lindgrens, mit zahlreichen Zeitungsausschnitten illustrierten, im Original rund dreitausend Seiten umfassenden Aufzeichnungen als wertvolles Zeitdokument gewürdigt. Weil ihr schwedisches Heimatland durch seine politisch weitgehend gewahrte Neutralität innerhalb Europas eine vergleichsweise friedliche Insel blieb, gleichzeitig aber durch Eisenerzlieferungen und Kredite ganz gut am Krieg verdiente, konnte die Chronistin aus der privilegierten Perspektive der Verschonten das schreckliche Geschehen verfolgen.

Zwei Dinosaurier, die miteinander kämpfen

Als Journalistin besaß sie das nötige Handwerkszeug, und durch ihre Arbeit beim Nachrichtendienst, wo sie deutsche Briefe auf landeskritische Inhalte prüfen musste, war sie von 1940 an viel besser informiert als der Durchschnittsbürger. Sie wusste früh von der unwürdigen Behandlung und der Vernichtung der Juden in Deutschland und den besetzten Ländern: „Hitler beabsichtigt offenbar, ganz Polen in ein einziges Ghetto zu verwandeln, in dem die armen Juden an Hunger und Dreck sterben“, schreibt sie etwa am 27. März 1941. Mit Hilfe von Zeitungsartikeln, Radiosendungen, Kartenmaterial und Flüchtlingsberichten versucht sie sich ein Bild von Frontverläufen und Bombenangriffen zu verschaffen. Mindestens ebenso sehr wie die Nazis aber fürchtete die bekennende Pazifistin die Sowjets, die das nahe gelegene Finnland bedrohten, und die baltischen Länder unterjochten, „der Nationalsozialismus und der Bolschewismus – sie sind ungefähr wie zwei Dinosaurier, die miteinander kämpfen“, hält sie am 28. Juni 1941 fest.

Die immer wieder aufkeimende Frage, wie viel man in Schweden zu diesem Zeitpunkt von Konzentrationslagern und anderen Nazigräueln wissen konnte, wenn man denn wollte, hat unter den Bewohnern des Landes nach Erscheinen von Lindgrens Tagebüchern enorm an Fahrt aufgenommen. Ihre offene, sich selbst nicht ausklammernde Auseinandersetzung mit der nur scheinbar unschuldigen Nischenexistenz des skandinavischen Landes kratzt nicht wenig am Selbstbild von dessen Bewohnern.

Reise ins Traumreich der Kindheit

Und noch ein anderer Punkt beschäftigt die Verehrer der bekanntesten Kinderbuchautorin der Welt: Deutlicher denn je tritt durch neuere Veröffentlichungen zu Tage, dass nicht nur zwei Weltkriege das Wirken der 2002 verstorbenen, politisch stets für die Schwachen engagierten, zeitlebens fröhlich und herzlich auftretenden, aber grundmelancholischen Autorin geformt haben, sondern auch sehr persönliche Traumata und Dramen. Mit 19 hatte sie, nach einer sehr schwierigen Pubertät, die sie als Vertreibung aus dem Zauberreich des Spiels empfunden haben muss, ihren unehelichen Sohn Lars, den sie von ihrem dreißig Jahre älteren Chefredakteur erwartete, unter seelischen Qualen zur Pflege nach Dänemark gegeben. Erst fünf Jahre später, als sie Sture Lindgren geheiratet hatte, konnte sie den Jungen zu sich holen „Ohne das mit Lasse wäre ich wahrscheinlich auch Schriftstellerin geworden, aber nicht so eine berühmte“, sagte sie am Ende ihres Lebens, als ihr wohl selbst klarer geworden war, wie tröstlich die von ihr erfundene Figur eines allein überlebensfähigen Kindes auch für die eigene, schuldgequälte Seele gewesen sein muss.

Und mit Ende dreißig, als der Krieg fast überstanden war, trieb sie die Untreue ihres dem Alkohol und den Frauen sehr zugeneigten Ehemannes an den Rand. „Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich“, heißt es am 19. Juli 1944 selbstkritisch im Tagebuch. Der Ehekrieg endet versöhnlich „mit einem Sieg für mich“, Sture Lindgren stirbt 1952 nach langer Suchtkrankheit, und Astrid Lindgren veröffentlicht in den zehn Jahren bis 1954 viele ihrer großen Bücher, von „Pippi Langstrumpf“ über „Kalle Blomquist“ bis „Mio, mein Mio“. Auf dem Papier reist sie immer wieder zurück in ihr Traumreich der Kindheit, und bringt so für ihre jungen Leser all das Helle und Dunkle, alle Lebensfreuden und -schmerzen zum Glänzen, die in der Vorpubertät in einem Menschen im besten Falle angelegt werden, und mit denen er im besten Falle immer wieder die abgestumpfte Erwachsenenwelt herausfordert. Wie ruft doch der Kuckuck in Lindgrens Märchen „Sonnenau“ wie besessen: „Warum dürfen Leid und Unbarmherzigkeit existieren?“