Vor 22 Jahren vertrieb ein entfesselter Mob Hunderte Asylbewerber. Die Stadt hat den Horror lange totgeschwiegen. Nun sollen wieder Flüchtlinge hier leben. Ein Besuch bei Menschen, die nicht wollen, dass sich Geschichte wiederholt.

Hoyerswerda - Wenn Stefan Skora jemandem seine Stadt erklären will, dann bittet er sein Gegenüber manchmal, die Augen zu schließen. Der Oberbürgermeister fragt dann: „Was fällt Ihnen zu Hoyerswerda ein?“ Die Leute machen irgendwann ihre Augen wieder auf, und Skora kann es an ihren Gesichtern ablesen. „Vielen seh ich an, dass ich sie erwischt habe. Sie denken nur an 1991.“

 

Hoyerswerda im September vor 22 Jahren. Eine ganze Woche lang wütet ein Mob durch die Stadt und greift Ausländer an. Alles beginnt mit einer Menschenjagd. Neonazis treiben am 17. September mehrere Vietnamesen über den Markt. Die Gejagten flüchten in ein Wohnheim für DDR-Vertragsarbeiter. Erst Dutzende, später Hunderte Menschen versammeln sich vor dem Haus. Sie brüllen „Deutschland den Deutschen“. Sie brüllen „Sieg Heil“. Es fliegen Steine, Scheiben splittern, einer wirft den ersten Brandsatz. Nachbarn, Schaulustige versammeln sich. Beobachten alles, klatschen Beifall. Die Bewohner des Heims sind ihre ehemaligen Kollegen im Braunkohletagebau. Die Polizei kommt erst nach Stunden an den Tatort. Sie tut nichts.

Die Ausschreitungen verlegen sich auf ein Asylbewerberheim. Das geht über Tage so. Zeitweise stehen zwischen 500 und 600 Menschen vor dem Heim. Das Fernsehen sendet Bilder, redet mit Bürgern. Die sprechen über „Ausländer, denen der Zucker in den Arsch“ geblasen werde, über „Negerschweine“, die in ihrer „deutschen Stadt“ nichts zu suchen haben und „raus sollen“, „mit Gewalt, so geht es am schnellsten“.

Der dünne zivilisatorische Firniss ist gerissen

Deutschland schaut zu. Der zuständige Landkreis kommt nach Tagen zu der Einschätzung, „dass eine endgültige Problemlösung nur durch Ausreise der Ausländer geschaffen werden kann“. Am 23. September werden die Bewohner unter Polizeischutz aus der Stadt gebracht. Neonazis feiern Hoyerswerda als „erste ausländerfreie Stadt Deutschlands“. Über Jahre werden Asylbewerberheime in Deutschland zum Angriffsziel. In Hoyerswerda ist der dünne zivilisatorische Firniss gerissen, der bisher das Schlimmste verhindert hatte.

Wie geht man mit so einer Geschichte um? Hoyerswerda hat sich lange für eine Lebenslüge entschieden: der Mob, das waren die anderen. Neonazis aus ganz Sachsen, aus dem Westen. Und eigentlich ging es ja um sozialen Protest – binnen weniger Wochen verloren in der Lausitz Tausende ihren Arbeitsplatz, Menschen, die von heute auf morgen in einem anderen System leben mussten, wurden ihrer bisherigen Lebenssicherheit auf vielen Ebenen beraubt. Und überhaupt: dass Hoyerswerda eigentlich überall ist, zeigten ja die Ereignisse.

Der Oberbürgermeister würde lieber über anderes sprechen

Klappe zu. „In Hoyerswerda hat viele Jahre kein Mensch über all das geredet“, sagt Stefan Skora. Auch jetzt würde der Oberbürgermeister lieber über anderes sprechen. Über den Stadtumbau, über den demografischen Wandel. Über die einzige Chance dieser ausgebluteten Kleinstadt, deren größter Teil in der DDR auf dem Reißbrett entstand, und die sich nach der Wende wieder praktisch halbiert hat: Menschen willkommen heißen.

Skora, 53 Jahre, graues Haar, ernster Blick, einst selbst im Tagebau Schwarze Pumpe beschäftigt, sitzt im großen Saal des historischen Rathauses direkt am Markt. Vor sich auf dem riesigen Tisch hat er den Ausdruck einer Powerpoint-Präsentation liegen, fließender Farbverlauf von Grün nach Violett, darauf der Stadtslogan: „Wir lieben Ideen.“ Aus dem Tagebaugebiet wird ganz langsam eine Urlaubsgegend, das Lausitzer Seenland. Man könnte Kultur anbieten, Einkaufsmöglichkeiten, ein nettes Städtchen für Touristen zum Flanieren und Essengehen. Aber keiner denkt bei Hoyerswerda an Gastfreundschaft.

Der Bann von 1991 wirkt: Es gibt keine Ausländer

„Und jetzt“, sagt Skora, „zeigen sie im Fernsehen auch noch die alten Bilder.“ Seit Oktober ist das so. Da hat der Landkreis beschlossen, dass die Stadt ein Asylbewerberheim bekommt, vermutlich öffnet es im Januar für 120 Menschen. Eigentlich ein normaler Vorgang für eine Große Kreisstadt, ringsum gibt es Heime, und hier steht eine Schule leer. Aber er wirkt, der Bann von 1991. Es gibt hier keine Ausländer.

Auch jetzt hört man in der Stadt Stimmen voll eigenartiger Vorsicht, die dafür plädieren, mit Hoyerswerda „sensibel“ umzugehen, hier weniger Asylbewerber unterzubringen oder keine. Das würde Menschen, die ohnehin traumatisiert sind, vor schrecklichen Erlebnissen schützen, sagen die einen. Und es würde bedeuten: die Nazis hätten gewonnen, nach 22 Jahren.

Skora will das nicht. Er sagt, dass Hoyerswerda eine ganz normale Stadt mit ganz normalen Aufgaben sei – zumindest was die rechte Szene angeht, ist der Ort beileibe nicht der braunste Fleck in Sachsen. Der Verfassungsschutz zählt 25 bis 30 gewaltbereite Neonazis, mit Zulauf.

Dem Sozialneid die Spitze nehmen

Aber da ist die Geschichte – und die bietet einen gewaltigen Resonanzboden. Man muss befürchten, dass Rechte den Boden nutzen. Und dann ist die Frage: Was machen die Menschen von Hoyerswerda diesmal? Es gibt nicht wenige, die wollen, dass ihre Stadt es diesmal besser macht. Der Bürgermeister sagt, es sei viel getan worden, die Aufarbeitung habe, wenn auch verzögert, stattgefunden. Skora redet darüber, dass schon damals die meisten in der Stadt mit den Ereignissen nichts zu tun hatten. Er redet über das vor Jahren von Bürgern gegründete Bündnis für Zivilcourage. Über den künstlerischen Wettbewerb für ein Denkmal zur Erinnerung. Der Bürgermeister hat extra eine Hotline eingerichtet, eine Mailadresse. Die Anfragen hielten sich in Grenzen. „Die meisten schweigen wohl“, sagt er. „Ich kann ja nicht in ihre Köpfe schauen.“ Es gab ein Bürgerforum, zu dem 300 Leute kamen. „Vergleichsweise sachlich“ sei das gewesen. Skora will das Heim vor dem Einzug der Flüchtlinge einen Tag für alle öffnen, damit jeder sich ein Bild machen kann von den Lebensumständen. Er hofft, dem Sozialneid, der Zündstoff ist, damit die Spitze zu nehmen.

Ob das klappt? „Wenn die Menschen sich einen Sündenbock für ihre Lebenssituation suchen, dann protestieren sie nicht gegen die Herrschenden“, sagt Grit Maroske. „Das ist doch so gewollt.“ Maroske sitzt im Gemeindehaus der evangelischen Kirche, gemeinsam mit Pfarrer Jörg Michel und einigen Vertretern der Stadt. Im Herbst haben sie ein Bürgerbündnis gegründet. „Hoyerswerda hilft mit Herz“, heißt es. Sie wollen Vorurteile abbauen und vor allem dagegenhalten – gegen das, was jetzt schon an Fremdenhass aus dem Internet in die Wirklichkeit schwappt.

Die Hetze folgt immer demselben Schema

Seit den ersten Gerüchten im Sommer machen dort Leute auf mehreren Seiten Stimmung gegen Ausländer. „Sie hetzen, und sie verdrehen Fakten, es geht wirklich zur Sache“, sagt Grit Maroske. Die Hetze folgt demselben Schema wie bei den Gegnern der Heime in Berlin-Hellersdorf, in Schneeberg im Erzgebirge, in Lauchhammer in Brandenburg. Unter dem Deckmäntelchen einer sogenannten Bürgerinitiative wiegeln Rechtsextremisten – oft aus dem Umfeld der NPD – gegen die Neuankömmlinge auf. Die Behauptungen sind immer dieselben: Asylbewerberheime ließen die Kriminalität steigen, es würden Krankheiten eingeschleppt, das Geld, das für Fremde ausgegeben werde, stehe „uns Deutschen“ nicht zur Verfügung, das Land werde überfremdet von Menschen, die gezielt in die Sozialsysteme einwanderten – alles durchmischt mit rassistischen Sprüchen und Verunglimpfungen gegen „antideutsche“ Unterstützer. Im Internet wird aus der schweigenden eine schäumende Mehrheit.

In Grit Maroske kommen die Erinnerungen hoch. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, die Stimme wird wacklig und leiser. Maroske ist 44 Jahre alt, hat die Ausschreitungen als junge Frau erlebt. „Die Bilder vergesse ich nie. „Ich hab mich damals scheiden lassen, weil mein Mann mitgeklatscht hat. Er war einer von denen, die dabei waren, die ich kenne und heute noch auf der Straße treffe.“

Auch in der Gegenwart zerbrechen wieder Freundschaften, jetzt schon, bevor der erste Asylbewerber angekommen ist. Grit Maroske saß neulich mit Freunden in einer Kneipe. Es gab Streit. Zwei verließen wutentbrannt das Lokal. „Ich hab die Freundschaft mit beiden beenden müssen. Menschen, die so rassistische Dinge sagen, das geht nicht“, sagt Maroske.

Oft ist sie schockiert darüber, wie Hoyerswerdaer sich äußern – nicht nur im Schutz der Anonymität des Netzes. „Es sind Freundinnen, Verwandte, Bekannte, die Sätze sagen wie: Ich will hier keine Ausländer.“ Viele seien uninformiert. In den vergangenen Wochen war das Heim in vielen Gesprächen bestimmendes Thema. „Wenn ich das Gefühl habe, etwas ausrichten zu können, argumentiere ich“, sagt Maroske.

Ein Klima der Angst

Auch Pfarrer Michel glaubt, dass, wer so tut, als sei in Hoyerswerda bis auf zwei Dutzend gewaltbereite Neonazis eigentlich alles gut, die Dinge nicht beim Namen nennt. Er will die Menschen an die Möglichkeit erinnern, barmherzig zu sein. Und er will verhindern, „dass die Rechten unsere Stadt wieder vergewaltigen“. Dazu, so denkt er, müsse man offensiv mit der Realität umgehen. Zu der gehören die Aufkleber und Schmierereien von Nazis, dazu gehört das Klima der Angst, von dem ihm Jugendliche berichten, die sich als links definieren, dazu gehört die dumpfe Fremdenfeindlichkeit.

Und dazu gehört, was sich vor einem Jahr in Hoyerswerda abgespielt hat – und erst Wochen später überhaupt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde: eine Vertreibung. Ein Ehepaar, das sich politisch als antifaschistisch versteht und seit Jahren immer wieder die Naziaufkleber von Laternen und Bushaltestellenhäuschen kratzt, wurde Opfer von etwa einem Dutzend Neonazis. Die verschafften sich nach allem, was bisher bekannt ist, Zutritt zum Flur des Mehrfamilienhauses, drehten den Strom ab und donnerten gegen die Wohnungstür.

Sie sollen dem Paar mit Vergewaltigung und Tod gedroht haben. Kein Anwohner reagierte, die Polizei kam – und wartete auf Verstärkung. Die Beamten griffen nicht durch. Erst nach zwei Stunden gelang es, die Angreifer vom Tatort wegzulotsen. Das verängstigte Ehepaar verließ daraufhin die Stadt und lebt seither an einem geheimen Ort – nach Aussagen der Opfer habe die Polizei ihnen das empfohlen. Die Darstellungen gehen in diesem Punkt auseinander. Der Polizei allerdings war das Geschehen nicht einmal eine ausführliche Mitteilung wert. Der Bürgermeister erfuhr erst einen Monat später von der Tat, als der MDR darüber berichtet. Der Polizeisprecher ließ sich mit den Worten vernehmen: „Es ist einfacher, zwei Personen von einem Ort zu einem anderen, sicheren Ort zu verbringen, als 30 Personen zu bewachen.“

Mitte Januar kommt der Fall in Hoyerswerda vor Gericht. Etwa zur selben Zeit wird mit den Asylbewerbern gerechnet.