Die Verwaltungsgerichte in Deutschland haben eine regelrechte Flut an Asylverfahren zu bewältigen. Die Richter müssen stets den gesamten Sachverhalt ermitteln, was sich in der Praxis schwierig gestalten kann. Ein Blick in den Gerichtssaal.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Es ist ein kalter Dezembermorgen. Im Saal 4 des Stuttgarter Verwaltungsgerichts lädt Richter Samuel Thomann im 45-Minuten-Takt zum Termin. Es sind ausschließlich Fälle aus Afghanistan, die hier und heute auf der Tagesordnung stehen. Die Schicksale ähneln sich. Da ist Nabile N. Von Kabul aus floh er in den Iran – bis zur Grenze in Eigenregie, dann hat er einem Schlepper 15 000 Afghani bezahlt, 200 Euro. Wie es weiter ging, will Samuel Thomann wissen. Mithilfe einer Dolmetscherin erklärt der Afghane, dass er zuerst fünf Monate im Iran gelebt habe, ehe es für weitere 2000 Euro und mithilfe eines Schleppers nach Europa ging. Der Mann habe keine Angehörigen mehr in Afghanistan, fügt sein Anwalt hinzu. Und er ändert den Antrag ab: Geklagt wird nicht mehr auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder den sogenannten subsidiären Schutz, sondern nur noch darauf, dass der Mann nicht abgeschoben wird.

 

Die verschiedenen Anträge

Ein Asylantrag kann zu mehreren Ergebnissen führen. Bei politischer Verfolgung gibt es Asyl. Die Flüchtlingseigenschaft wird anerkannt, wenn die Bedrohung einer gesamten Gruppe etwa aufgrund ihrer Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung gilt. Wird der Antrag abgelehnt, besteht die Möglichkeit auf subsidiären Schutz. Er wird Flüchtlingen gewährt, denen individuell ein schwerer Schaden droht. Wenn weder Asyl noch Flüchtlingseigenschaft noch subsidiärer Schutz greifen, kann bei Vorliegen bestimmter Gründe ein Abschiebungsverbot erteilt werden. Zum Beispiel dann, wenn die Rückführung in das Zielland die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen könnte.

Seit der Kindheit auf der Flucht

Vor Thomann sitzt Abdullkader N. Er sei 33 Jahre, das hätten ihm seine Eltern gesagt, berichtet der Mann. Er ist Analphabet. Bereits als Kind sei er mit seiner Familie in den Iran geflüchtet, habe dort auf dem Bau gearbeitet. In Afghanistan sei noch „ein Onkel mütterlicherseits“. Von seiner Frau, die in Deutschland als Flüchtling anerkannt ist, und seinem Sohn lebe er getrennt, geschieden sind sie nicht. „Das liegt nicht in meiner Hand, das bestimmt meine Frau“, lässt Abdullkader N. übersetzen. Und: „Ohne meine Familie kann ich nicht zurück, nur mit würde es gehen.“ Der Anwalt räuspert sich: Sein Mandant sei sich der Tragweite seiner Worte wohl nicht bewusst. Gemeinsam mit der Dolmetscherin findet der Richter heraus, dass der Mann mit „zurück“ den Iran meint. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge will ihn aber nach Afghanistan abschieben. „Die Entscheidung wird Ihnen schriftlich zugehen“, sagt Samuel Thomann. Wie in allen anderen Fällen entschuldigt er sich schon jetzt: „Es wird mindestens vier Wochen dauern, dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Die Vorgehensweise

„Anders als im Zivilrecht gilt bei uns nicht der Beibringungsgrundsatz“, sagt Gudrun Schraft-Huber, die Präsidentin des Stuttgarter Verwaltungsgerichts. Das heißt, es müssen bei der Entscheidungsfindung nicht nur die von den Parteien in den Prozess eingebrachten Tatsachen berücksichtigt werden. Der Richter müsse stets den gesamten Sachverhalt ermitteln.

Dafür hat der Vorsitzende die Akten zur Verfügung, meist ist auch der Antragsteller im Saal anwesend, aber so gut wie nie ein Vertreter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, also das Amt, das den ablehnenden Bescheid erlassen hat, nachdem sich ein Mitarbeiter mit dem Flüchtling unterhalten hat. Das Amt werde geladen, erscheine aber regelmäßig nicht, sagt die Gerichtspräsidentin: „Das hat sich so entwickelt.“ Diese Entwicklung verursacht bei so manchem Antragsteller Verwirrung. „Der Richter ist eine neutrale Instanz, erscheint aber zugleich auch so, als spreche er für das Bundesamt mit“, beschreibt Schraft-Huber: „Das ist nicht gut.“

Verhandlung in Abwesenheit

Bei der nächsten Verhandlung fehlt nicht nur das Bundesamt – sondern auch der Flüchtling. Nur dessen Anwalt ist da. Der entschuldigt sich für seinen Mandanten, dieser mache „einen verwirrten Eindruck“. Ob die Geschichte des Afghanen, dessen Bruder angeblich bei der Polizei arbeitet und von den Taliban bedroht wird, den Tatsachen entspricht? Schwer zu sagen. Die Abwesenheit des Antragstellers sei für die Überzeugungsbildung des Gerichts nicht gerade förderlich, sagt Richter Thomann. Also entschuldigt er sich bei dem Anwalt, dass es bis zur Entscheidung noch dauern könne.

Der Zeitplan

Die Gerichtspräsidentin Gudrun Schraft-Huber erklärt, dass es allein im Ermessen des Richters liege, ob er aus dem Aktenstapel auf dem Schreibtisch ein Asylverfahren anberaumt oder eine herkömmliche Verwaltungsrechtssache. Trotz aller Mehrbelastung müssten die Rechtsuchenden nicht länger als zuvor auf eine Entscheidung warten. 10,4 Monate habe in den ersten zehn Monaten 2017 die durchschnittliche Verfahrensdauer betragen, 2016 waren es gar 10,7 Monate. Hauptsacheverfahren im Bereich des Asylrechts dauerten 5,2 Monate – im Jahr 2016 waren es 5,8 Monaten. Ob sich die Zeiten so halten lassen, ist ungewiss: Schon bald muss das Verwaltungsgericht sein Stammhaus in der Augustenstraße verlassen; das Gebäude wird saniert und beim Brandschutz auf Vordermann gebracht. „Wir versuchen unser Bestes, aber ein solcher Umzug kann unvorhersehbare Folgen haben“, sagt Schraft-Huber.

Familienfehde oder Schutzbedarf?

Im Saal 4 des Verwaltungsgerichts hat Familie R. Platz genommen. Der Mann gibt sein Geburtsjahr mit 1985 an, seine Ehefrau mit 1371. Das ist kein gewaltiger Altersunterschied, sondern eine unterschiedliche Zählweise. Nach dem persischen Kalender ist derzeit das Jahr 1396. So mancher Flüchtling hat große Schwierigkeiten, das Erlebte in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen – und das nach dem in Deutschland gültigen Kalender. Das Ehepaar erzählt, wie dem Mann bei einer Überlandfahrt aus Kabul heraus das Auto gestohlen wurde, wie er von vermummten Räubern geschlagen wurde und wie groß die Angst der Familie war, wenn das Telefon klingelte. „Wir hatten finanziell gesehen ein gutes Leben“, sagt die Frau. Dann erzählt sie, wie eine Cousine zwangsverheiratet wurde und was für Todesdrohungen und Anschlagsversuche es auf Familienmitglieder gab, als die Ehe geschieden wurde. Schlimm sei das, sagt Richter Thomann, aber doch eher eine Familienfehde. Bei einer rechtlichen Würdigung falle es schwer, Anhaltspunkte für eine Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zu finden. Ein Abschiebeverbot gegenüber der Familie besteht aber bereits: Der Mann hat für März bereits einen Arbeitsvertrag als Autolackierer.