Die Stuttgarter Band XTR Human macht auf ihrem Debütalbum "Atavism" kalte Maschinenmusik. Sie nimmt den Zuhörer mit in den Underground, wo alles düster und kühl ist - eben so wie die Welt da draußen.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Das Debütalbum "Atavism" der Stuttgarter Band XTR Human an einem sonnigen Tag anzuhören, ergibt einen schönen Kontrast. Im Ohr hat man dann den eisigen, glattpolierten Wave und Post Punk und auf der Haut die wärmenden Sonnenstrahlen. Ja, das sind die, die uns Menschen glücklich machen. 

 

Nur: XTR Human sind nicht glücklich, jedenfalls machen sie keine Musik, die darauf schließen lässt. Sie grenzen sich vom Glücklichsein ab: Diese drei Herren machen keinen Kuschelpop, sie liefern keine in Musik gegossene Stimmungsaufheller. Das Album "Atavism" taugt nicht einmal dazu, sich an einem sonnigen Tag wieder selbst runterzuziehen. Musik ist bei XTR Human kein Emotionsdienstleister. Sie trifft entweder auf Hörer, deren depressive Disposition längst feststeht. Oder sie wird zu einem intellektuellen Erlebnis, also zu reiner Kunst.

Heute wie damals: no future

Kunst braucht Kontext, und dank der Referenzen von XTR Human ist klar: Hier wird auf die späten Siebziger und frühen Achtziger verwiesen. Tatsächlich gibt es Parallelen der damaligen zur heutigen Zeit: Die ersten Wave-Bands und Post-Punk-Pioniere lebten eine No-future-Attitüde. Die Welt schien im Kalten Krieg wortwörtlich eingefroren, man war in Analogie zu Dantes Göttlicher Komödie am neunten, also am letzten Höllenkreis angekommen - da wo nur noch Kälte und Eis sind.

Was den Künstlern damals eine in Kälte erstarrte Welt war, das ist heute, nach dem Endsieg des Kapitalismus, die Vereinsamung und Entfremdung. Wir haben die totale Mobilität, die dank Technologie möglich und dadurch in gewissem Sinne auch dem Menschen aufgezwungen wird. Technologie ist kalt und herzlos: Der Mensch muss effizienter werden, er muss funktionieren. Wie blöd: Genau das ist ab irgendeinem Punkt unmenschlich. Noch blöder: die anderen Optionen heißen Verarmung oder Tod.

Nicht nur die Umstände, auch die Antworten, die Musiker damals wie heute auf die nach solcher Lesart grundähnlichen Verhältnisse finden, ähneln sich. Bewusst zur Schau gestellte Coolness im Sinne von kühl, emotionslos. Gitarren so scharf wie die Rasiermesser, mit denen Verzweifelte sich selbst verletzen. Gesang aus dem Teil der Kehle, wo einem auch der Schmerz an der Welt steckenbleibt. Insgesamt: ein Schlag in die Magengrube.

Die großen Fragen

Es sind die großen Fragen der Menschheit, auf die XTR Human wie ihre Vorbilder Antworten im ganz individuellen Empfinden suchen. Ja, Joy Division müssen einmal mehr als Referenz genannt werden, vor allem weil Ian Curtis' Gesangstechnik hörbar bis heute Menschen prägt, die seine Kinder sein könnten. Joy Division waren eine Gitarrenband, doch sie lebten in Zeiten von Synthesizern und Maschinenmusik. Wobei Maschinenmusik nicht notwendigerweise von Maschinen gemacht werden musste. Die ausdruckslosen Stakkati der Talking Heads wurden nur übertroffen von Devo, die 1978 den schwitzigen Rolling-Stones-Hit "Satisfaction" als roboterhafte Persiflage neu einspielten. Kraftwerk machten mit anderen Mitteln genau dasselbe und inszenierten sich schon in ihrer frühen Phase als emotionslose Roboter. Echte Instrumente finden auf Kraftwerk-Konzerten nicht statt.

Die damals begründete maschinenmusikalische Stammlinie war stets lebendig. Depeche Mode führten sie in Richtung Mainstream, weil sie den kalten Synthesizer-Sounds reichlich romantische Texte mitgaben. In den Nullerjahren fing dann das große Post-Punk-Revival an: Bands wie Interpol oder Editors orientieren sich in Songwriting, bei ihren Texten und auch gesanglich stark an Ian Curtis und Co., Gruppen wie Bloc Party, The Rapture und Foals setzen auf kantige Gitarren. 

Das ist die poppige Seite des Geschäfts. XTR Human jedoch bedienen den Teil des Post-Punk- und Wave-Erbes, der sich im Untergrund am wohlsten fühlt. Die Band hat schon vor Acts wie Black Marble oder Motorama gespielt. Man denkt auch an die Stuttgarter Band Die Selektion und andere, die in der Tradition der Prä-Techno-Musik EBM stehen - bei dem Berliner Label Aufnahme + Wiedergabe gibt es Berge solcher Musik zu entdecken.

Ist die Welt wirklich so düster?

All das klingt auf der von Gabriel Schütz in Stuttgart aufgenommenen und produzierten Platte mit. Nur dass XTR Human alles noch ein bisschen kälter machen, alles immer noch schlimmer zu gehen scheint. Jene Texte, in denen es um Liebesschmerz geht, sind dabei nicht ganz so originell - an der Liebe zu leiden ist vielleicht die älteste Art überhaupt, zu leiden. Interessanter sind Songs wie das titelgebende "Atavism", in dem über verzerrte Gitarren, Maschinenrhythmen und ping-pong-artig oszillierendes Synthesizerblubbern das bewusste Erleben des eigenen emotionalen Todes geschildert wird. 

Sicher finden sich solche Topoi und musikalischen Ansätze schon bei den allerersten Wave-Bands. Die innere Ödnis, die ja auch von der äußeren herrührt, so konsistent zu inszenieren wie XTR Human es tun, ist das Zuhören dennoch wert. Die Band führt die Elemente Post Punk, Wave und Shoegaze wieder zusammen, die sich seit Joy Division als eigenständige Sub-Genres etabliert haben. 

Rückbesinnung als ein Schritt nach vorn? Ja, schon, wenn man erkennt, dass heute vieles genauso ist wie damals, vor dreißig Jahren. Die Musik von XTR Human ist eine Antwort auf die Welt da draußen; wer sie hört, sieht diese Welt vielleicht mit anderen Augen. Ist die Welt wirklich so düster? Gut möglich. Ein paar Sonnenstrahlen ändern daran jedenfalls gar nichts.

XTR Human, "Atavism". Das Album ist bei no emb blanc erschienen.