Nach Fukushima sei für sie alles anders, sagt Merkel. Nichts als Lüge, entgegnet ihr die Opposition. Die Kanzlerin steht vor einer Bewährungsprobe.

Berlin - Um fünf vor Neun betritt Angela Merkel den Plenarsaal des Bundestags. Es ist der 17. März 2011, und in Merkels Verständnis ist es der siebte Tag einer neuen Zeitrechnung. Am Freitag bebte in Japan die Erde und nichts, so hat Merkel es immer wieder gesagt, sei seitdem mehr so, wie vor dem Hereinbrechen dieser Urgewalt, die im Atomkraftwerk Fukushima eine atomare Katastrophe herauf beschworen hat.

 

Sie wird dies auch heute wieder sagen, um zu begründen, weshalb die deutschen Meiler, die vor der Kernschmelze in Japan hierzulande in der Diktion der Koalition noch als sicherste der Welt galten, mit einem mal zu prüfen sind. Weshalb also plötzlich alles anders sein soll, wenn denn nicht aus Furcht vor einer baldigen Abstrafung einer atomfreundlichen Politik, die angesichts der allgegenwärtigen Bilder explodierender Kraftwerksgebäude in Deutschland nicht mehr allzu viele Freunde mehr finden dürfte.

Diese Tage so kurz vor der Landtagswahl im Schlüsselland Baden-Württemberg sind deshalb eine große, wenn nicht gar die größte Bewährungsprobe ihrer Amtszeit, denn es steht für sie auf dem Spiel, was mit keinem Wahlkampfversprechen aufzuwiegen ist: ihre eigene Glaubwürdigkeit. "Wir sollten uns in diesem Hause, dazu sind wir verpflichtet, um die Wahrheit bemühen", sagt sie, als es schon hoch her geht in der Debatte. Die Kanzlerin weiß nur zu gut, dass vor allem sie mit diesem Maßstab derzeit vermessen wird.

Merkel war eine Verfechterin längerer Laufzeiten für die "sichersten Kernkraftwerke der Welt". Sie war es auch, die vor dem Beben versichert hatte, dass man "schnellstmöglich" das Zeitalter der Erneuerbaren Energien anstreben wolle. Jetzt sollen die Meiler noch sicherer werden, und der Übergang soll noch schneller von statten gehen. Schneller als schnellstmöglich? Sicherer als sicher? Das muss sie erklären. Hier und heute im Bundestag. Weil es sonst eng werden könnte für die Koalition, sollte sich der Vorwurf der Opposition verfangen, Merkel betreibe Politik nach Stimmungslage.

"Nicht  zur Tagesordnung übergehen"

Knapp vierzig Minuten dauert ihre Rede. Zwölf davon nutzt sie, um nicht allein die Opfer und das Leid zu bedauern, sondern auch, um die Naturkatastrophe als einzigartig, apokalyptisch und jenseits aller Vorstellungskraft zu beschreiben. Ein Ausmaß, das "wir sehen und zu verstehen versuchen". Ein "Einschnitt für die ganze Welt, für Europa und auch für Deutschland", nach dem man "nicht einfach zur Tagesordnung übergehen" dürfe. Mit ziemlich viel Pathos im Grundton beschreibt sie jene Extreme, mit denen sie ihre extreme Kehrtwende rechtfertigt.

Aber die Teile ihrer Regierungserklärung wollen sich nicht so recht zu einem schlüssigen Bild fügen. Sie sagt, dass derartige Erdbeben und Flutwellen Deutschland nicht treffen werden. Weshalb dann die Hektik? Sie sagt, wie in alten Zeiten, Deutschland könne "nicht von jetzt auf gleich auf Atomkraft verzichten", plädiert für einen "Ausstieg mit Augenmaß", versichert aber zugleich, dass die "Sicherheit oberstes Gebot" sei und keine Tabus bestünden. Sie lehnt es ab, "Akw über Nacht abzuschalten", hat aber genau dies gemeinsam mit den betroffenen Länderchefs bei sieben älteren Meilern verfügt.

Sie sagt, "wir brauchen die Kernkraft", rühmt aber wenig später ihre Regierung dafür, beim Ausstieg weiter zu gehen als Rote und Grüne es sich in ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen können. Bei Rot-Grün hätte nur Neckarwestheim I stillgelegt werden müssen, sagt sie, unter ihrer Regentschaft gingen jetzt gleich sieben Meiler vom Netz. Sie sagt das so, als gebe es für diese Sieben definitiv kein Morgen. Dabei soll das alles doch nur, wie CDU-Fraktionschef Volker Kauder später zu Protokoll geben wird, "eine Denkpause" sein, ein dreimonatiges Innehalten. Kauder gilt als einer der entschiedensten Verfechter der Laufzeitverlängerung. Was also wird nach den drei Monaten geschehen? Die Kanzlerin lässt es offen.Die Debatte gerät zu einem verbissenen Kampf um die Deutungshoheit. Alte Wunden reißen auf, neue werden geschlagen. Auch Merkel teilt aus, so hart, wie sie es als Regierungschefin im Parlament sonst nie tut. Die Argumentation ihrer politischen Gegner nennt sie "absolut respektlos", das Verhalten sei "an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten".

Bewährungsprobe für Merkel

Selbst der bedächtige SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wirft der von ihm einst geschätzten Kanzlerin daraufhin vor, "das Leid der Menschen zu instrumentalisieren", um eine innenpolitisch notwendige Debatte über ihren neuen Kurs zu verhindern. Sie solle sich da gefälligst das Lachen verkneifen, raunzt er Merkel an. "Wer sich so verhält wie Sie, darf nicht umgekehrt Respekt von der Opposition verlangen."

Phasenweise gerät die Debatte zu einem Stelldichein der Rechthaber. So gefällt sich Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin in der akribischen Aufzählung der Standorte, an denen er schon in all den Jahren gegen Atomenergie demonstrierte. Als Merkel abermals der Opposition vorwirft, für Erneuerbare Energien zu streiten, aber zugleich den notwendigen Ausbau des Stromnetzes zu blockieren, gerät Grünen-Fraktionschefin Renate Künast schier außer sich: "Jetzt reicht's aber", ruft sie. "Wann's reicht, Frau Künast, entscheiden nicht Sie", kontert Merkel.

Gabriel wirft Merkel Kumpanei mit der Atomwirtschaft vor

Am härtesten langt SPD-Chef Sigmar Gabriel zu, stets darauf bedacht, die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin in Frage zu stellen. Gabriel wirft ihr "Kumpanei mit der Atomwirtschaft" vor. Er glaube ihr nicht, dass sie die Atomkraftwerke jetzt ernsthaft prüfen lasse, nachdem sie im vergangenen Jahr die Laufzeitverlängerung "mit den Herren der Atomwirtschaft im Hinterzimmer dingfest gemacht" habe. Nur durch "Tricksereien" sei es ihr gelungen, Biblis A und Neckarwestheim I am Netz zu halten und den Konzernen Milliardengewinne zu garantieren. Das alte kerntechnische Regelwerk, nach dem jetzt geprüft werde, sei zudem veraltet, ein neues, ein strengeres, ein von ihm einst als Umweltminister ausgearbeitetes, lehne sie ab: "Sie persönlich haben Sicherheit gegen Geld getauscht."

Merkels Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg sei außerdem rechtlich nicht hieb und stichfest, sagt Gabriel. Ein neues Gesetz müsse her. Denn der Paragraf, den sie im Atomgesetz bemühe, gelte nur, wenn von den Kraftwerken eine Gefahr ausgehe. Es wäre eine "historische Leistung", ätzte Gabriel vor dem Hintergrund eventueller Klagen der Atomindustrie, wenn Merkel die Energieversorger dazu brächte, diese Bewertung zu akzeptieren. Nicht mehr als eine Willensbekundung ohne verbindlichen Wert seien deshalb Merkels Worte. Man könne sich "auf nichts verlassen, was sie sagen", giftet Gabriel.

So war es schon immer in Deutschland, und hier unter der Kuppel des Reichtages lässt sich dieses Phänomen abermals besichtigen: Die Atomenergie spaltet nicht nur die Grundbausteine der Materie. Sie spaltet auch Politik und Gesellschaft. Am Ende ihrer Rede wird Kanzlerin Angela Merkel nach all ihren lauten Attacken still. Ein "versöhnliches Wort" kündigt sie an. An das Leid der Menschen in Japan erinnert sie. Aber nach Versöhnung ist im Bundestag an diesem Tag keinem zumute. Auch ihr nicht. Eher nach Wahlkampf.