Noch bis vor wenigen Tagen hat Baden-Württemberg stark auf Energie aus Atommeilern gesetzt. Wie schnell könnten sie abgeschaltet werden?  

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Noch bis vor wenigen Tagen hat Baden-Württemberg stark auf Atomkraft gesetzt: Mit den vier Reaktoren in Philippsburg und Neckarwestheim ist die Hälfte des benötigten Stroms erzeugt worden. In der Region Stuttgart ist die Vielfalt der 20 großen Kraftwerke deutlich größer: Die Energie Baden-Württemberg (EnBW) stellt Strom mit Kohle, Gas, Öl, Wasser und sogar mit Müll her. Maria Dehmer, die Sprecherin der EnBW-Kraftswerks AG, betont aber: "Die Grundversorgung wird mit den Kern- und Wasserkraftanlagen sichergestellt. In Zeiten mit höherem Bedarf fahren wir die Kraftwerke in Walheim und Marbach an."

 

Tatsächlich ist das Kohlekraftwerk Walheim im Schnitt jährlich nur 2500 Stunden am Netz, Marbach sogar nur 100 Stunden. Die Anlagen in Münster, Gaisburg und Altbach produzieren viel Fernwärme und nicht nur Strom. Umgekehrt speisen aber auch viele private Betreiber ihren Strom ins allgemeine Netz ein: Es gibt 26 Windräder in der Region, Tausende von Häuslesbesitzern (und auch die EnBW) haben Fotovoltaikanlagen auf dem Dach, im Land laufen 1700 kleine Wasserkraftwerke, und lokal spielen zunehmend auch Biogasanlagen und Blockheizkraftwerke eine Rolle. Auf der Grafik konnten wegen der Vielzahl der Anlagen nur die großen EnBW-Kraftwerke und 24 Windräder berücksichtigt werden. Die EnBW produziert den überwiegenden Teil des Stroms; der Anteil liegt wohl über 80 Prozent.

Reservekraftwerke stärker genutzt

Der Reaktor Neckarwestheim I ist vermutlich endgültig vom Netz gegangen: Von diesem Kernkraftwerk stammten rund drei Prozent des im Land hergestellten Stroms. Philippsburg I, das vorerst nur vorübergehend abgeschaltet ist, stellte rund zwölf Prozent. Laut Maria Dehmer muss die EnBW deshalb jetzt verstärkt an der Strombörse in Leipzig zukaufen. Daneben würden die Reservekraftwerke stärker genutzt - die Stromproduktion in Walheim sei zum Beispiel hochgefahren worden. Schon vorher hat der erzeugte Strom im Land nicht ausgereicht; 2008 mussten laut neuestem Energiebericht des Umweltministeriums 17 Prozent der benötigten Energie zugekauft werden.

Da der Anteil des Atomstroms in Baden-Württemberg doppelt so hoch ist wie bundesweit, ist die Landesregierung relativ zurückhaltend in den Prognosen, wie schnell man die regenerativen Energien voranbringen und in der Folge auf die Kernkraftwerke verzichten kann. Laut neuestem Energiekonzept will man bis 2020 auf 20 Prozent kommen. Das war allerdings vor der Katastrophe in Japan. Das Bundesumweltministerium plant dagegen, bis 2020 rund 30 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu beziehen; heute sind es knapp 15 Prozent. Die Universität Stuttgart hält dieses Ziel in einer Studie für weitgehend realistisch. Der Bundesverband für erneuerbare Energien (BEE) glaubt sogar, 47 Prozent erreichen zu können.

Potenzial für die Windenergie kaum genutz

Ronald Heinemann, der Sprecher des BEE, sieht die alternativen Energieformen grundsätzlich auf einem guten Weg. Er kritisiert aber, dass das Land sein Potenzial für die Windenergie kaum nutze. Lange hatte man die Windräder abgelehnt, weil sie die Landschaft "verspargeln" würden. Tatsächlich müssten rechnerisch mehr als 1000 Windräder gebaut werden, um die Leistung des Reaktors Neckarwestheim II zu ersetzen. Das zusätzliche Potenzial der Wasserkraft hat das Land vor kurzem untersuchen lassen und kam auf eher bescheidene Größen. So setzt man eher auf Fotovoltaik- und Biomasseanlagen.

Doch auch bei den regenerativen Energien entstehen schnell Konflikte, wie man jüngst gerade in der Region Stuttgart beobachten konnte. Gegen das hohe Windrad bei Ingersheim (Kreis Ludwigsburg) hatte sich heftiger Bürgerprotest erhoben, der allerdings erfolglos blieb. Eine große Biogasanlage in Nürtingen hat der Regionalverband nun gestoppt, weil sie die Freifläche im Albvorland verschandele.

Klimaschutzziele in Gefahr

Alfred Voß, der Leiter des Institutes für Energiewirtschaft an der Universität Stuttgart, warnt aber nicht nur deshalb davor, jetzt unter dem Schock der Ereignisse "vorschnelle Entscheidungen" zu treffen. Der zugekaufte Strom stamme womöglich wieder aus Kernkraftwerken, besonders wenn man ihn aus Frankreich beziehe. Vor allem aber gerieten die Klimaschutzziele in Gefahr. Allein der Meiler II in Neckarwestheim vermeidet laut EnBW 10,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid jährlich - dies käme obendrauf auf die 70 Millionen Tonnen, die ohnehin jährlich im Land ausgestoßen werden. Länder wie Schweiz oder Frankreich seien Deutschland, teils gerade wegen ihrer Kernkraftwerke, voraus beim Schutz der Atmosphäre. Zudem betont Voß, dass Kohlekraftwerke trotz modernster Filter Schadstoffe produzieren: "Tote durch Feinstaub sind Wirklichkeit - auch dies muss bei der Abwägung berücksichtigt werden."

Doch auch der Energiewissenschaftler Voß hält es für möglich, die erneuerbaren Energien schneller auszubauen. Die Kosten seien allerdings immens: Er rechnet mit 210 Milliarden Euro bundesweit, wenn man den Anteil der regenerativen Energien nur auf 60 Prozent steigern möchte. Nicht zuletzt würden auch die Endpreise steigen, weil Atomstrom recht günstig sei.

Michael Sterner vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik in Kassel sieht laut "Spiegel" sogar einen kompletten Ausstieg aus der Kernenergie bis 2020 als realistisch an. Es müssten dazu die Windanlagen stark ausgebaut und neue Gaskraftwerke errichtet werden.