Washington wirft Moskau vor, sich seit Jahren nicht mehr an den INF-Vertrag zur Rüstungskontrolle zu halten: Nukleare Marschflugkörper mittlerer Reichweite bedrohen jede Stadt in Europa.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Am Samstag läuft die Frist ab. Wenige Tage später dürften die USA einen Abrüstungsvertrag mit Russland kündigen, der als ein wichtiger Eckstein der europäischen Sicherheitsarchitektur gilt. Die Rede ist vom Vertrag für die Beseitigung nuklearer Mittelstreckenraketen, den Moskau und Washington 1987, also noch vor dem Mauerfall und zu Zeiten des Kalten Krieges, unterzeichnet haben. Mit dem Vertrag haben sich die beiden Supermächte verpflichtet, keine neuen landgestützten Marschflugkörper mit mittleren Reichweiten, also zwischen 500 und 5500 Kilometern, zu stationieren.

 

Die Kündigung des INF-Vertrages kommt nicht überraschend. Seit fünf Jahren wirft die US-Regierung Moskau vor, vertragsbrüchig zu sein. Der Stein des Anstoßes ist ein neuer Marschflugkörper, der in Nato-Kreisen unter dem Code SSC8 firmiert. Die Waffengattung, deren Entwicklung die Russen nach Überzeugung der USA 2008 begonnen haben, sei 2018 erstmals stationiert worden und zwar jenseits des Urals bei Jekaterinburg und in der Nähe von Wolgograd. Die USA-Aufklärung geht davon aus, dass die Waffen eine Reichweite von 2500 Kilometern haben und damit jede Hauptstadt in Europa ins Visier nehmen können. US-Außenminister Mike Pompeo hatte beim Nato-Ministertreffen im Dezember in Brüssel bereits erklärt, dass Moskau den INF-Vertrag breche. Die USA hatten auf Wunsch der Alliierten Russland noch einmal eine 60-Tages-Frist gegeben, um wieder vertragskonform zu werden. Vertragskonform würde bedeuten, dass Moskau die Waffensysteme zerstört.

„Ablenkungsmanöver“

Moskau hat zunächst über Jahre die Existenz der Waffen geleugnet. Inzwischen wird sie jedoch eingeräumt. Letzte Woche haben russische Militärs Journalisten und Fachleuten die Hülle der umstrittenen Waffe gezeigt. Moskau behauptet aber, dass die Reichweiten mit 498 Kilometern geringer seien und damit der Vertrag nicht verletzt werde. Moskau wirft Washington im Gegenzug vor, seinerseits nach dem INF-Vertrag verbotene landgestützte Raketen in Osteuropa aufgebaut zu haben. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nannte die Gegenvorwürfe Moskaus vergangene Woche nach einem Treffen von hochrangigen Vertretern von Nato und Russland ein Ablenkungsmanöver. Die USA verletzten nicht den INF-Vertrag. „Rüstungskontrolle wird nicht funktionieren, wenn sie nur von einer Seite respektiert wird.“ Stoltenberg kritisierte die von Moskau entwickelten Waffen: „Sie sind schwer zu entdecken, sie sind mobil, sie können nuklear bestückt werden, sie können jede Stadt in Europa erreichen.“ Es habe in den letzten Jahren über 30 Treffen auf höchster diplomatischer Ebene mit Russland gegeben, bei denen die Beschwerden deutlich gemacht wurden. Alle Nato-Mitglieder teilen die Vorwürfe der USA und unterstützen das Vorgehen beim INF-Vertrag. Nach der Ankündigung der USA, den Vertrag aufzukündigen, ist mit einer Erklärung des Nordatlantikrates zu rechnen, in der sich die Bündnispartner mit dem Schritt der USA solidarisieren.

Stoltenberg machte deutlich, dass selbst nach einer Aufkündigung des Vertrages durch die USA der Abrüstungsvertrag noch nicht komplett gescheitert sei. Er laufe erst sechs Monate nach der Kündigung aus. „Russland hat immer noch die Gelegenheit, wieder auf den Boden des Vertrages zurück zu kehren. Und wir fordern Russland auf, diese Gelegenheit zu nutzen.“

Andere Atommächte im Blick

Doch in Nato-Kreisen glaubt niemand an ein Einlenken Moskaus. Experten gehen davon aus, dass Moskau auch deswegen die Verpflichtungen durch den Vertrag abschütteln will, weil seit 1987 in Asien mit Korea, Indien, Pakistan und China viele Länder nukleare Mittelstreckenraketen angeschafft haben. Russland wolle gleichziehen.

Wenn der INF-Vertrag ausgelaufen ist, ist der Weg frei für die Entwicklung und Stationierung bodengestützter Marschflugkörper mittlerer Reichweite in Europa. Wie in Brüssel zu hören ist, haben die USA ihren Verbündeten aber erklärt, dass sie keine offensive Strategie verfolgen. Die USA verfügen nicht über entsprechende Boden-Boden-Systeme, die sie nach Europa verlagern könnten. Das Ende des Vertrages erlaubt die Forschung und Tests von neuen Waffensystemen. Stoltenberg sagte, dass die Nato reagieren müsse: „Wir müssen sicherstellen, dass die Nato weiterhin glaubwürdig und effektiv Abschreckung und Verteidigung bietet.“ Er fügte aber hinzu: „Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg keinen neuen Rüstungswettlauf.“ Was die Nato mache, werde maßvoll sein: „Wir machen nicht das Gleiche wie Russland.“