Rom - „Im Namen von Premier Giuseppe Conte und von Innenministerin Luciana Lamorgese entschuldige ich mich beim französischen Volk und bei den Kindern der Toten und Geköpften“, erklärte Lega-Chef Matteo Salvini am Donnerstagabend polemisch. Conte und Lamorgese, so Salvini, trügen die „moralische Verantwortung“ für den Terrorakt in der Kathedrale von Nizza: Sie hätten die Anlandungen von Migranten aus Tunesien in Lampedusa nicht gestoppt und es damit dem Attentäter Brahim Aouissaoui erst ermöglicht, nach Europa zu gelangen. Der rechtspopulistische Ex-Innenminister forderte seine parteilose Nachfolgerin im Innenministerium zum Rücktritt auf.
Tatsächlich war der 21-jährige mutmaßliche Terrorist am 20. September auf einem Flüchtlingsboot in Lampedusa angekommen – zusammen mit über 300 anderen, ebenfalls hauptsächlich aus Tunesien stammenden Migranten, die an jenem Sonntag mit insgesamt 26 Booten auf der kleinen Touristeninsel landeten. Auf Lampedusa wurde Aouissaoui erkennungsdienstlich überprüft; anschließend wurde er auf dem Quarantäne-Schiff „Rhapsody“ untergebracht, wo er – zusammen mit über 800 anderen Migranten – 14 Tage bleiben musste. Am 8. Oktober lief die „Rhapsody“ in Bari (Apulien) ein und Aouissaoui konnte an Land gehen. Danach tauchte er unter.
Der Fanatiker reiste illegal ein
Der Fanatiker, der nur drei Wochen später in der Kathedrale von Nizza drei Menschen töten sollte, konnte also mehr oder weniger unbehelligt und obendrein illegal nach Italien und damit nach Europa einreisen. Das irritiert in Italien nicht nur die von Salvini angeführte Rechte. Was Salvini allerdings verschweigt: Bezüglich der tunesischen Migranten sind dem italienischen Staat weitgehend die Hände gebunden. Was im Zusammenhang mit Aouissaoui passiert ist, wäre unter ihm als Innenminister mit größter Wahrscheinlichkeit ähnlich abgelaufen. Auch der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, war über Lampedusa nach Europa gelangt – als er einreiste, war Salvinis Parteifreund Roberto Maroni Innenminister gewesen.
Bei den tunesischen Immigranten stellen sich für Italien zwei Probleme. Das erste: Weil der Seeweg von der tunesischen Küste nach Lampedusa nur halb so weit ist wie aus Libyen, schaffen es die meisten Flüchtlinge aus Tunesien, „autonom“ nach Lampedusa zu fahren, also ohne gerettet werden zu müssen. Für ihre meist kleinen Boote können die Häfen nicht einfach „geschlossen“ werden wie für die großen Schiffe der Küstenwache oder der NGOs, denen Salvini tage- oder auch wochenlang die Einfahrt verwehrte.
Die Boote abzuweisen würde den sicheren Tod bedeuten
Die kleinen Boote abzuweisen würde bedeuten, die Migranten in den sicheren Tod zu schicken. Auch unter Salvini konnten diese Boote ungehindert anlanden. Das zweite Problem: Aus Tunesien kommen mit Abstand die meisten Migranten nach Italien. Von den 27 200 Bootsflüchtlingen, die laut Angaben des Innenministeriums seit Anfang dieses Jahres angelandet sind, stammen 11 200 (41 Prozent) aus dem Maghreb-Staat. Das sind weit mehr, als abgeschoben werden können: Laut dem zwischen Rom und Tunis bestehenden Rücknahmeabkommen können derzeit – theoretisch – pro Woche 80 Tunesier mit Charterflügen in ihre Heimat zurückgebracht werden. Alle anderen müssten monate- oder jahrelang in Abschiebezentren gesteckt werden, was weder praktisch durchführbar noch juristisch möglich wäre.
In Covid-Zeiten ist die Abschiebung noch sehr viel schwieriger geworden – bisher waren es in diesem Jahr wenige hundert Rückführungen. In Abschiebehaft kommen vorzugsweise diejenigen Personen, die wegen ihrer radikalen Gesinnung aktenkundig geworden oder anderweitig vorbestraft sind. Das war bei Aouissaoui nicht der Fall: Er ist sowohl für die tunesischen Sicherheitsbehörden als auch für die italienischen Geheimdienste ein unbeschriebenes Blatt gewesen. Somit wurde mit ihm verfahren, wie mit allen anderen unverdächtigen tunesischen Migranten verfahren wird: Er erhielt einen schriftlichen Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt, in dem er aufgefordert wurde, Italien innerhalb der nächsten sieben Tage zu verlassen. Das hat er getan – aber er ging nicht zurück nach Tunesien, sondern nach Nizza.