Stuttgart - Es war an einem Abend, an dem Wolfgang Schäuble sich von Freunden umringt wähnen durfte: von Leuten, die ihn persönlich kennen, ihn schätzen, die ihm bei Wahlen ihr Vertrauen schenken. Einer hatte anderes im Sinn. Drei Schüsse verändern Schäubles Leben jäh: Der CDU-Politiker hatte an jenem 12. Oktober 1990 eben eine Wahlkampfrede beendet. Kurz nach 22 Uhr verlässt er im Gedränge den Saal des Gasthauses der Brauerei Bruder im südbadischen Oppenau – mitten in seiner Heimat. Ein damals 37 Jahre alter Mann, der zuvor unauffällig im Publikum gesessen hatte, nähert sich unbemerkt, zieht einen Revolver und feuert aus einem halben Meter Distanz.
Schäuble wird im Rücken und am Hals getroffen. Die dritte Kugel bohrt sich in den Körper eines Personenschützers, der ihn gegen den Angriff abzuschirmen versucht. Der Minister sinkt zu Boden. „Ich spüre meine Beine nicht mehr“, ist das erste, was er nach dem Anschlag sagt. Den Satz wird niemand je vergessen, der dabei war. Unter ihnen seine Tochter Christine.
„Im Bruchteil einer Sekunde aus einer hochjauchzenden Stimmung gerissen“
Sie weicht ihm nicht von der Seite, als er, lebensgefährlich verletzt, zunächst ins Kreiskrankenhaus Oberkirch, später mit dem Hubschrauber in die Uniklinik Freiburg transportiert wird. Dort ringen die Ärzte fünf Stunden lang um sein Leben. Schnell ist offenkundig, dass Schäuble nie wieder wird gehen können. Er bleibt vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt – und für sein weiteres Leben auf einen Rollstuhl angewiesen.
Schäuble ist damals Bundesinnenminister. Er gilt als wichtigster Mann der Union nach dem Kanzler, als Helmut Kohls Kronprinz. Sechs Wochen zuvor hatte er die deutsche Einheit ausverhandelt. Das Attentat, so erinnert er sich heute, „hat mich im Bruchteil einer Sekunde aus einer hochjauchzenden Stimmung gerissen. Ein paar Tage vorher war ja die Wiedervereinigung, der Höhepunkt in meinem politischen Leben. Dann war plötzlich alles völlig anders“.
„Ich war zunächst hinreichend damit beschäftigt zu überleben“
Es ist eines der seltenen Gespräche, in denen der inzwischen 78 Jahre alte Politiker laut nachdenkt über sein Schicksal, sich einem Publikum öffnet. Er will kein Spektakel daraus machen. In den drei Jahrzehnten seit der Tat hat er sich dazu kaum in Interviews geäußert. Dieser Tage räumt er der Stuttgarter Zeitung Gelegenheit zu heiklen Fragen ein. Der Bundestagspräsident beantwortet sie stoisch. Selbstmitleid ist seine Sache nicht.
„Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“ fragt er seine Tochter am Krankenbett, als er aus dem künstlichen Koma aufwacht. Ist ihm je in den Sinn gekommen, die Politik aufzugeben? „Ich war zunächst hinreichend damit beschäftigt zu überleben“, antwortet Schäuble auf solche Fragen. „Und als der Kanzler sagte, ich solle Innenminister bleiben, dachte ich: Ob das wohl geht? Es hat mir geholfen, mit diesem schweren Einschnitt in meinem Leben leichter zurande zu kommen als jemand, der über so eine Verletzung seine berufliche Grundlage verliert.“
„Ich bin kein besserer Mensch dadurch geworden“
Sechs Wochen nach der Tat wagt Schäuble sich wieder ins Scheinwerferlicht der Kameras – ein Moment, der sich in die Ikonografie der Republik eingebrannt hat: der Minister im Rollstuhl, Trainingsjacke statt dunklem Anzug, die Wange mit einem großen weißen Pflaster verklebt. „Als ich gehört habe, dass Helmut Kohl und Lothar Späth am Donnerstag vor der Bundestagswahl an meiner statt in Offenburg auf einer großen Kundgebung auftreten wollten, dachte ich: Da will ich dabei sein“, erzählt Schäuble. „Mir war aber klar, wenn ich mich im Wahlkampf blicken lasse, muss ich vorher meine Arbeit als Minister wiederaufgenommen haben.“ Ihm sei bewusst gewesen, wie sehr er zum „Objekt öffentlicher Beobachtung“ würde. „Daraus entstand die Idee, bei einer Pressekonferenz zu probieren, ob ich das aushalte. Die Bilder kennt jeder. Und ich habe festgestellt: Ich halte das aus.“
Auf die Frage, ob ihn die Erfahrung gestärkt habe, sich wieder ins Leben zurückgekämpft zu haben, antwortet Schäuble lakonisch: „Nein. Ich bin ja kein besserer Mensch dadurch geworden.“ Disziplin, die einem vom Leben abverlangt werde, ohne dass man sich freiwillig dazu entschieden hätte, „ist ja nicht so schwer“, sagt er. „Es bleibt Ihnen ja gar nichts anderes übrig. Wenn so was passiert, passiert‘s. Dann muss man damit zurechtkommen. Man muss sich wieder aufrappeln. Sonst bleibt man liegen. Das wollte ich nicht.“
Der politische Betrieb erweist sich als rücksichtsvoller als erwartet
Die Rückkehr in den Job als Minister zählt Schäuble „wirklich zu den positiven Erfahrungen“ in seinem seit 1972 währenden Politikerleben. „Natürlich waren die meisten im Umgang mit einem Rollstuhlfahrer so ungeübt wie ich es zuvor auch war“, sagt er. Auch von der politischen Konkurrenz habe er jedoch „ganz viel Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft erfahren“. Um dies zu illustrieren, erzählt er eine Anekdote von Anfang 1991. Er hatte damals Tarifverhandlungen mit Monika Wulf-Mathies, Chefin der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes. Sie habe ihm offen erklärt, dass sie ihren Mitgliedern nicht das Gefühl vermitteln dürfe, ihn zu schonen und auch nur auf ein Zehntelprozent Lohnerhöhung zu verzichten, bloß weil er im Rollstuhl sitze. Sie hätten sich dann verständigt, dass er um eine Auszeit bitten konnte, wenn es nötig würde. Dieses Entgegenkommen und die offene Art, mit der Wulf-Mathies den wunden Punkt ansprach, habe ihm sehr imponiert.
Umgekehrt habe er nie ein besonderes Aufheben um seine Behinderung gemacht – Schäuble sagt: „kein Brimborium“. Der politische Betrieb habe sich bei der Rückkehr nach dem Anschlag „jedenfalls besser als sein Ruf erwiesen“.
Der Täter: ein drogenabhängiger Kneipier, von Wahnideen getrieben
Der Attentäter von damals kommt in diesen Erzählungen nicht vor. Öffentlich hat er über ihn bisher kaum ein Wort verloren. Der Mann war nicht bei Sinnen, als er seinen Revolver abfeuert: ein gescheiterter Kneipier, zeitweise drogenabhängig, von Wahnideen getrieben. Er habe sich für „psychischen und physischen Terror“ rächen wollen, die ihm der Staat angetan hätten, gibt er im Polizeiverhör zu Protokoll.
Schäuble kannte den Vater des Täters. Der war von 1969 bis 1977 Bürgermeister in Appenweier, einem Ort im Wahlkreis des badischen Christdemokraten. Die Tatwaffe hatte der Schütze aus dessen Waffenschrank entwendet. Der Vater war Jäger. Als Innenminister hatte Schäuble dem späteren Attentäter einmal aus der Bredouille geholfen, als dieser wegen Drogengeschäften in Haft saß. Er setzte sich dafür ein, dass er aus einem ausländischen Gefängnis nach Deutschland überführt wurde. Der Mann wurde wegen „paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie“ für schuldunfähig erklärt und landete in der Psychiatrie. 2004 durfte er die Klinik verlassen. 2019 ist er mit 65 gestorben.
„Ich habe keinerlei Hass, kein Rachebedürfnis empfunden“
Noch aus der psychiatrischen Anstalt hatte er Schäuble einen Brief geschrieben und um Vergebung gebeten. Eine Antwort bekam er nicht. Das Schreiben habe ein Anwalt verfasst, um Druck aufzubauen mit dem Ziel einer vorzeitigen Entlassung, so schildert Schäuble das heute. Der Brief sei in den Medien veröffentlicht worden, bevor er selbst ihn erhalten habe. „Deshalb habe ich so reagiert, wie man da reagiert: nämlich gar nicht.“
Schäuble versichert: „Ich bin ihm gar nicht böse gewesen, also musste ich ihm auch nicht verzeihen. Ich habe keinerlei Hass, kein Rachebedürfnis empfunden. Seinen Eltern habe ich geschrieben, dass ich mir vorstellen könne, wir hätten beide eine schwere Last zu tragen: Ich mit meinen Verletzungen und sie, weil ihr Sohn so eine Tat begangen hat.“
Wie geht man als Opfer eines Verbrechens mit den schrecklichen Erinnerungen an die Tat um? Schäuble versichert: „Wer eine solche Erfahrung einmal gemacht hat, wird gelassener. Ich habe auch keine Angst mehr. Woher sollte die auch kommen? Ich habe von der Sache ja gar nichts mitbekommen. Von einer Sekunde auf die andere war ich weg. Insofern habe ich keine traumatische Erinnerung. Sicher ist es nicht schön, querschnittsgelähmt zu sein. Anders wäre es besser. Aber es ist, wie es ist. Es ist ja schon 30 Jahre her, insofern ist der 12. Oktober für mich kein besonderer Tag.“