Die Zahlen machen besorgt: Die Kinderarmut steigt allenthalben, auch in Stuttgart. Diese Entwicklung der vergangenen Jahre ist eine Folge des Flüchtlingszuzugs. Die Stadt verstärkt ihre Bemühungen, gegenzusteuern.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Die renommierte Bertelsmann-Stiftung ist kürzlich mit einer viel beachteten Nachricht an die Öffentlichkeit gegangen: „Die Wirtschaft wächst“, heißt es dort, „doch die Kinderarmut auch“. Kriterium für diese Diagnose: die Zahl der Menschen unter 18 Jahre, die auf Hartz IV angewiesen sind. Im Jahr 2015 lebten in Deutschland im Vergleich zu 2011 mehr Kinder in Familien, die auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind (1,93 Millionen), stellt die Stiftung in einer Studie fest. Die Kinderarmutsquote sei im Bund in diesem Zeitraum von 14,3 auf 14,7 Prozent gestiegen.

 

In der Bertelsmann-Studie fehlt ein Sachverhalt – den kann man einer weniger beachteten Studie der Hans-Böckler-Stiftung entnehmen. Darin stellt der Sozialwissenschaftler Eric Seils fest, die Armutsquote bei Kindern ohne Migrationshintergrund sei von 2014 auf 2015 im Bundesschnitt von 13,7 auf 13,5 Prozent zurückgegangen, 2016 nochmals leicht auf 13,3 Prozent. Ein Rückgang sei auch bei den in Deutschland geborenen Kindern mit Migrationshintergrund, die ein höheres Armutsrisiko haben, festzustellen, von 28,9 auf 28,2 Prozent. Insgesamt kommt Sozialforscher Seils zu dem Schluss: „Der Anstieg der Kinderarmut geht seit dem Jahr 2012 ganz überwiegend auf die Flüchtlingseinwanderung zurück und ist an den einheimischen Kindern spurlos vorübergegangen.“

Die Entwicklung: Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer

Diese Tendenz lässt sich am Beispiel Stuttgarts belegen. Nimmt man dafür die jüngsten Zahlen bis Mitte dieses Jahres zur Hand, zeigt sich sogar: Seit dem Vorjahr hat sich die genannte Entwicklung in noch weit stärkerem Maße ausgeprägt.

So waren im Juni 2017 beim Jobcenter ingesamt 12 832 Kinder im Hartz-IV-Bezug, rund 4800 mit einem ausländischen Pass. Eben diese Gruppe ist innerhalb eines Jahres, also seit Mitte 2016, rapide von rund 3700 Personen um 1100 Kinder angestiegen. Das ist ein Plus von knapp 30 Prozent. Die Jahre davor gab es nur leichte Schwankungen. Daran ändert ein starker Rückgang von rund 450 Personen im Jahr 2015 auf 2016 nichts. Dieser ist laut Jobcenter auf eine statistische Klärung zurückführen, weil man den Aufenthaltsstatus ausländischer Kinder geprüft und festgestellt habe, dass viele bereits einen deutschen Pass besaßen, sagt Torsten Stollen, der Controller beim Jobcenter der Stadt. Was die leicht rückläufige Zahl von Kindern mit deutschem Pass, die Hartz IV bekommen, bestätigt.

Deutlich zugenommen hat die Zahl der Ausländer im Hartz-IV-Bezug. Inzwischen ist eine wachsende Zahl von Asylverfahren abgeschlossen, sodass die Geflüchteten Hilfe nicht mehr nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, sondern Hartz IV. Dadurch ist die Kinderarmutsquote in Stuttgart von 13,3 im Jahr 2015 auf 14,7 Prozent gestiegen. Besonders zugenommen hat der Anteil der Kinder aus Syrien. Zur Verdeutlichung hat Torsten Stollen diese Gruppe aus der Gesamtzahl herausgerechnet. Bis Mitte 2017 ist dieser Wert auf 1349 Kinder gestiegen. Der Zuwachs der Hilfeempfänger mit ausländischen Pass von 2016 auf 2017 (von 3058 auf 3460 Personen) hat die gleiche Ursache. Stollen: „Die 400 Personen mehr sind Geflüchtete aus anderen Ländern, zum Beispiel aus dem Irak.“

Es trifft vor allem Familien mit vielen Kindern

Was nicht bedeutet, dass man bei der Gruppe der Kinder im Hartz-IV-Bezug mit deutschem Pass Entwarnung geben könnte. „Der Rückgang ist ganz gering“, sagt Controller Stollen. Auch bei dieser Gruppe sei das Problem „nicht kleiner geworden“. Diese Einschätzung teilt Eric Seils: „Das Niveau ist immer noch sehr beachtlich.“

Dies gilt inbesondere für die beiden größten Problemgruppen: Familien mit drei und mehr Kindern, zu denen auch viele Flüchtlingsfamilien zählen, und Alleinerziehende. In Stuttgart leben rund 39 Prozent aller armen Kinder (rund 5400), die Hartz IV erhalten, in solchen Familien. Die Kinder, die nur bei einem Elternteil leben, machen sogar mehr als 6400 aus, das sind 46 Prozent. In jedem Fall müssen die betroffenen Kinder in dieser schwierigen Lebenslage oft lange ausharren, wie die Bertelsmann-Studie feststellt, „die Mehrheit drei und mehr Jahre“.

Für Sozialbürgermeister Werner Wölfle (Grüne) lässt sich aus der Statistik nur ein Schluss ziehen. „Die Zahlen sind hoch und beweisen, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen.“ Eine Ursache für das Problem der Kinderarmut sei der in Stuttgart „hohe Anteil an Geringverdienern“, merkt Wölfle an. „Das muss die Tarifpartner und die Bundesregierung beschäftigen.“ Dazu kämen die hohen Lebenshaltungskosten. Deshalb hofft der Bürgermeister, dass der Rat in den Haushaltsberatungen dafür sorgt, „dass wir unsere Anstrengungen zur Teilhabe dieser jungen Menschen an Gesellschaft und Bildung noch verstärken und Perspektiven schaffen können, aus dem Sozialleistungsbezug dauerhaft rauszukommen“.