Auf den Spuren von Thomas Mann Davos und sein Zauberberg
Das Schweizer Bergdorf feiert rund um das legendäre Schatzalp-Hotel das 100-Jahr-Jubiläum von Thomas Manns großem Bildungsroman.
Das Schweizer Bergdorf feiert rund um das legendäre Schatzalp-Hotel das 100-Jahr-Jubiläum von Thomas Manns großem Bildungsroman.
Drei Jahre. Höchstens. So lange hat er bei denen hier oben bleiben wollen. Eigentlich. Paulo Bernardo lacht leise. „Mittlerweile bin ich seit zwölf Jahren auf der Schatzalp“, sagt der 43-jährige Hoteldirektor, „schon fünf Jahre länger als Hans Castorp.“ Sieben Jahre, das ist die Zeitspanne, die der Romanheld von Thomas Mann in Davos verbracht hat. Kränkelnd verliebt. Auf über 1000 Romanseiten hin- und hergetrieben zwischen den philosophischen Parolen einer terroristisch gestützten Gottesstaat-Askese und humanistisch-demokratischen Freimaurerbelehrungen.
Sieben Jahre, sagt Bernardo, wie der Hamburger Castorp ein Gewächs aus dem tiefen Land, vom Niederrhein gebürtig mit portugiesischen Wurzeln. Aber was sind auf dem Zauberberg schon Jahre? Selbst einhundert verrinnen nach einer eigenen Uhr. Tröpfeln in 1861 Meter Höhe, noch mal 300 Meter über Davos Dorf und Platz thronend, mehr, als dass sie fließen. Wer über die Zeit nachsinnt – mit großartigem Fernblick auf die Dreitausender Plattenflue und Tinzenhorn „in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges“, wie Mann in dem 1924 erstmals veröffentlichten Roman schreibt –, der ist bereits tief in dieses herausfordernde Stück Weltliteratur eingetaucht.
Schließlich wird darin fortwährend über das Phänomen der Zeit theoretisiert. Über die Frage etwa, inwieweit „Interessantheit und Neuheit des Gehalts die Zeit vertreibe, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme“.
Erörtert wird auch das Problem der „Erzählbarkeit“ von Zeit, des Zusammenhangs zwischen der Dauer eines Berichts und der Länge des Zeitraums, auf den er sich bezieht. Man merkt: Es braucht auch reichlich Zeit, um bis zum Ende durchzuhalten. Und einen eisernen Willen. Vielen geht es so wie Bernardo: „Ich habe den Roman angefangen, aber nicht durchgehalten“, sagt der 43-Jährige, der dennoch stolz ist, eine Fischer-Verlag-Erstausgabe von Dezember 1924 erstanden zu haben. Privat. Davos feiert in diesem Jahr den „Zauberberg“-Geburtstag mit vielen Veranstaltungen. Der Winter gehört dem Weltwirtschaftsgipfel und wedelnden Skifahrern. Dieser und der nächste Sommer – da feiert man Thomas Manns 150. Geburtstag – gehören dem Literaturnobelpreisträger und wandernden Leseratten.
1899 war das Sanatorium hoch über Davos eröffnet worden. Das Dorf zählte in der Spitzenzeit über 30 renommierte Heilstätten, in denen Ärzte sich ohne aussichtsreiche medizinische Therapien (außer Sonne und Luft) gut dotiert um ihre schwindsüchtige internationale Patientenschar kümmerten. „Davos war damals die Tuberkulose-Hauptstadt Europas“, sagt Peter Flury. Ihre Blüte begann 1866, verstetigte sich aber erst ab 1890 mit der Ankunft der Rhätischen Bahn. Der 76-jährige Kurator, ein Mediziner im Ruhestand, führt in Davos Platz durch einen überschaubar großen Raum, der sich selbstbewusst Museum nennt. Ein paar Lungen-Röntgenbilder von 1913, ein paar Schöpfgläser, ein Pneumothorax-Apparat und ein paar dunkelblau gläserne Taschenspucknäpfe für das Sputum, den Auswurf, den sie hier noch heute den „blauen Heinrich“ nennen. Medizinisches Besteck. Thomas Mann weiß vom „Husten des Herrenreiters“ zu berichten. Und dem Exitus.
Mann hatte im Frühjahr 1912 seine Frau Katia drei Wochen in Davos besucht, die dort und in Arosa mehrmals mit Lungenbeschwerden, wenngleich wohl eher psychosomatisch angeschlagen, zu einer der damals ärztlich hilflos verordneten Liegekuren weilte. Ihre Briefe inspirierten Mann zum „Zauberberg“ und zur Schilderung seiner skurrilen Figuren.
Im Waldhotel führt Marietta Zürcher durch die Räume, zeigt ein nachgestelltes Kur-Zimmer und öffnet die Tür zu jenem kleinen Einzelzimmer 307 mit Balkon, das zu Manns Zeiten die Nummer 34 trug – und in dem nichts mehr an Katia Mann erinnert. „Wir bieten in den 46 Zimmern einen hochmodernen Standard“, sagt die Direktorin, deren Haus seit 1958 als Hotel geführt wird. Und das Moderne reduziere zwangsläufig das Historische.
Das ist auf der Schatzalp ganz anders. „Bei denen hier oben“, wie Hans Castorp sagt. „Bei uns gibt es keine Fernseher in den 92 Hotelzimmern“, sagt Bernardo. Die Armaturen in den Bädern sind die von 1900, das Mobiliar im Kaiser-Wilhelm-Zwo-Zimmer ist noch komplett aus der Zeit, als der deutsche Kaiser von 1906 bis 1918 Dauermieter des von ihm geforderten drei Etagen hohen Anbaus war. Mit Doppelbett, Schreibtisch, Sesseln, beheizter Klobrille und extra niedrigem Waschbecken. „Wir sind ein historisches Hotel“, sagt Bernardo auf dem Weg über die 105 Meter langen Flure auf vier Etagen durch ein lang gestrecktes Gebäude, das „vor lauter Balkonlogen von Weitem löchrig und porös wirkte wie ein Schwamm“, wie es Mann respektlos im „Zauberberg“ beschreibt.
Alter Luxus und abblätternde Fensterrahmenfarbe passen da wie gewollt zusammen. Auf dem Flur eine alte Siemens-Uhr, die drei Minuten vorging, damit die Kurenden nicht die Abfahrt der nahen Schatzalp-Standseilbahn verpassten, die die Gäste seit 1899 ab Davos Platz von 1557 Meter auf 1861 Meter befördert. An der Flurwand ein Original-Waschbecken zum verpflichtenden Auswurf-Ausspülen des „blauen Heinrich“. Die Zimmerböden mit Linoleum, der Speisesaal so, dass man sich fragt, wo denn der gute Russen-Tisch gestanden haben mag, an den Mann Hans Castorps „kirgisenäugige“ Liebe, die lässig-erotische, Tür schlagende Clawdia Chauchat platziert hatte. Auf den Balkonen stehen wie einst die alten Rattan-Liegen zur horizontalen Kur.
„Wenn wir erneuern, dann nur mit Original-Material“, sagt Bernardo. Detailversessen. Weil er lange nach altem Glas für neue Fensterscheiben, nach alten Schrauben oder Rollladengurten suchen muss. Die Schatzalp ist eben der Zauberberg. Mehr eine Haltung zum Leben als ein Roman von Weltrang. „Auch wenn die wenigsten, die kommen, wirklich an Literatur interessiert sind“, sagt der Hoteldirektor. Und so wird Bernardo bei denen hier oben wohl noch eine Zeit lang bleiben. Er blickt hinab ins Tal. „Man muss sich ergeben“, sagt er. Dann wird man weitersehen.
Anreise
Mit dem Zug nach Davos Dorf, Umstieg in Zürich und Landquart, www.bahn.de, www.sbb.ch.
Unterkunft
Im Hotel Schatzalp ist das Mobiliar im Kaiser-Wilhelm-Zimmer weitestgehend original aus dem Jahr 1906 erhalten. Eine Nacht kostet hier ca. 417 Euro. Das billigste Doppelzimmer gibt es ab ca. 187 Euro. Jugendstil-Hausführungen jeden Dienstag und Donnerstag (ohne Anmeldung) für 5,20 Euro, www.schatzalp.ch.Im Waldhotel befand sich bis 1958 das Sanatorium, in dem Thomas Mann seine lungenkranke Frau Katia im Frühjahr 1912 besuchte. Das von ihr bewohnte Zimmer trägt heute die Nummer 307 und ist neu ausgestattet, DZ ab 212 Euro, www.waldhotel-davos.ch.Das Hotel Morosani Schweizerhof liegt zentral an der Promenade in der Nähe der Bahnstation Davos Platz, sehr gute Küche im Restaurant Damoro, DZ ab 248 Euro, www.morosani.ch.
Thomas-Mann-Veranstaltungen
„Being Thomas Mann“ nennt sich ein Vier-Gänge-Menü im Speisesaal des ehemaligen Sanatoriums und heutigen Waldhotels, dazwischen tauchen die Gäste mithilfe von Virtual Reality in die Welt der „Zauberberg“-Figuren ein. Termine: 25. Juli, 16. August, 14. September und 4 Oktober; Preis rund 120 Euro. Die Thomas-Mann-Tage mit Vorträgen, Diskussionen und Gesprächen finden vom 5. bis 11. August auf dem Kulturplatz Davos statt.Alpines Literatur- und Filmfestival mit dem „Zauberberg Short Story Award“ im Hotel Schweizerhof und auf dem Kulturplatz Davos, 11. bis 13. Oktober. Infos zu allen Veranstaltungen unter: www.davos.ch/zauberberg
Aktivitäten und Ausflüge
Mit dem Postbus 301 ins Sertig-Tal und zum Wasserfall, wo die TV-Serie „Davos 1917“ gedreht wurde. Mit der Schatzalp-Strela-Standseilbahn zur Schatzalp, Hin- und Rückfahrt 20,90 Euro pro Person, www.schatzalp.ch.Sommerschlittelbahn nahe dem Hotel Schatzalp, 4,20 Euro pro Person, www.mamilade.ch.
Buchtipp
„Der Zauberberg“ war eigentlich als Novelle geplant, wurde dann aber einer der großen Romane der klassischen Moderne. Im Juli 1913 begonnen, konnte der Roman 1924 von Thomas Mann abgeschlossen werden. Zum 100. Jubiläum gibt es eine limitierte Prachtausgabe, Fischer-Verlag, 68 Euro. Allgemeine Informationen
Schweiz Tourismus, www.myswitzerland.com