Nach der Gewalttat in westfälischen Lünen steht die Frage im Raum, wie man mit renitenten Schülern umgehen soll. In Stuttgart gibt es dafür Spezialschulen. Mit dem Begriff „unbeschulbar“ kann man dort wenig anfangen.

Stuttgart - Es soll nur ein Blick gewesen sein, der den 15-jährigen Täter ausrasten ließ. Das Ende war fürchterlich: Er erstach in einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen einen 14-jährigen Schüler.

 

Gewalttaten, Bedrohungen oder aggressive Attacken an Schulen sind statistisch nicht erfasst. Die Stuttgarter Polizei unterscheidet nach Taten, nicht nach Tatorten. Auch das Kultusministerium Baden-Württemberg habe keine konkreten Zahlen, „da diese Einzelfälle nicht in der amtlichen Schulstatistik aufgeführt werden“, sagt eine Sprecherin. Das Stuttgarter Jugendamt stellt in seinem Jahresbericht für 2016 jedoch fest: „Die Beratungszentren sind mehr denn je „mit Jugendlichen in Kontakt, die sich selbst verletzen, deren Sozialverhalten gestört ist, deren Familienverhältnisse belastend sind, die psychisch krank oder arm sind.“

Solche Kinder sind überfordert und reagieren mit Aggressivität, gelegentlich mit Schulverweigerung. Schulen und Lehrer können dann zunächst auf der gesamten Klaviatur der erzieherischen Maßnahmen spielen: Elterngespräche, Einträge, Verweis aus dem Unterricht. Sie können aber auch die Schulpsychologische Beratungsstelle des Staatlichen Schulamts zurate ziehen. Erst wenn alle erzieherischen Maßnahmen nicht fruchten, darf die Schule laut Schulgesetz zu Ordnungsmaßnahmen greifen bis hin zum Schulverweis.

In Stuttgart sind fünf Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) darauf spezialisiert, die emotionale und soziale Entwicklung ihrer Schüler voranzubringen. Die Verbundschule Stuttgart-Rohr zum Beispiel oder die Albert-Schweitzer-Schule, ebenfalls in Rohr. Da Eltern die freie Wahl zwischen Inklusionsklasse an einer Regelschule und Sonderschule haben, darf die Schulbehörde eine Umschulung nicht verordnen. Man versucht, die Situation in einem Gespräch mit Eltern, Sozialarbeitern, Jugendamtsmitarbeitern, Lehrern, und Betreuern zu klären.

Mit dem Begriff „unbeschulbar“, wie der 15-jährige Täter aus Lünen bezeichnet worden ist, kann Martin Hermann deshalb wenig anfangen: „Aus pädagogischer Sicht muss und ist jedes Kind beschulbar“, sagt der Leiter der Albert-Schweitzer-Schule. Es hänge natürlich vom Rahmen ab und wie das Hilfekonstrukt gestrickt sei. Es gebe Kinder mit sehr hohem Förderbedarf, die ein intensives Angebot nötig hätten. Für manche Hilfen gebe es allerdings lange Wartezeiten, in manchen Fällen tue sich das Jugendamt schwer bei der Übernahme der Kosten.

Der Anspruch ist hoch

Seine Schüler, so Hermann weiter, seien auffällig, umtriebig, mitunter auch aggressiv. Manche würden als Inklusionskinder an einer Regelschule unterrichtet, andere besuchten kleine Klassen am Stammsitz in Rohr, manche bekämen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Stück für Stück sollen die Kinder wieder in größere Klassen zurückgeführt werden. „Es ist unser Anspruch, das für jedes Kind zu schaffen“, sagt Martin Hermann. Nur müssten sich halt die Eltern darauf einlassen.

Wenn Eltern ihr Einverständnis zu einer Einschulung an einem der SBBZ verweigern, ist die Schulbehörde machtlos. Christof Kuhnle, Schulrat beim Staatlichen Schulamt Stuttgart: „Wir machen uns dann auf die Suche nach individuellen Lösungen, wie die Schulpflicht erfüllt werden kann.“

Darüber hinaus haben Ämter und Sonderpädagogen einen Schulversuch namens Igel entwickelt, bei dem die Kinder auch therapeutische Unterstützung erhalten. Zudem gibt es die sogenannte Perspektivegruppe, wo Jugendliche mit vielen Brüchen in ihrer Bildungsbiografie wieder Fuß zu fassen lernen „und wir ihnen eine Perspektive auf einen Schulabschluss vermitteln“, so Kuhnle. Das Projekt hat in den vergangenen drei Jahren fast 90 Prozent der Teilnehmer in die Lage versetzt, wieder regelmäßig in ihre angestammte Klasse zurückzukehren. „Es kann natürlich vorkommen, dass die ausgewählte Schule nicht den richtigen Rahmen bildet“, sagt der Schulamtsmitarbeiter, dann müsse man neu überlegen.

Unterbingung in geschlossener Einrichtung

Die Jungs bei Scout am Löwentor hatten keine Wahl mehr. Viele sind zu Hause vernachlässigt worden, teils fehlten klare Grenzen, teils wurden sie straffällig. Ihre Eltern, das Familiengericht oder aber der Jugendrichter haben die Unterbringung in der geschlossenen, intensivpädagogischen Jugendhilfeeinrichtung erwirkt. „Nach uns kommt nur noch die Straße, die Psychiatrie oder der Knast“, sagt Jochen Salvasohn, der pädagogische Leiter bei Scout. Die Schulbank müssen sie aber auch dort drücken.