Wie Kliniken versuchen, den Berg an aufgeschobenen Operationen abzuarbeiten – und was Patienten dazu beitragen können.

Stuttgart/Berlin - Wenn eine Operation wegen der Corona-Pandemie verschoben wird, hat dies zuweilen unabsehbare Folgen. Ruth Becker vom Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) kennt ein eindrückliches Beispiel: eine Frau in den Vierzigern mit Gebärmutterhalskrebs. „Sie sollte eigentlich kurz nach der Diagnosestellung operiert werden“, sagt Hecker. „Als sie hörte, dass dieser Eingriff um mindestens sechs Wochen verschoben werden musste, war sie in großer Sorge: Sie hatte Angst, dass der Krebs sich ausweiten und schlechter therapierbar werden würde.“ Hecker ist selbst Fachärztin am Uniklinikum Essen und weiß: Es gibt auch bei manchen Krebserkrankungen einen medizinisch vertretbaren zeitlichen Puffer, was die Therapiephase angeht. „Aber darüber sollte der Arzt seine Patientin in Ruhe aufklären und auf ihre Sorgen eingehen“, sagt sie. Als Vorsitzende des Aktionsbündnisses merkt sie in diesen Zeiten aber auch: „Dies ist leider nicht immer der Fall.“

 

Bundesweit sind rund 30 bis 40 Prozent aller Eingriffe im Frühjahr vertagt worden

Patienten, die sich operieren lassen müssen, wird viel Geduld abverlangt: Wochenlang wurden nicht akute Operationen und Therapien verschoben, um Intensivbetten für die Versorgung von Covid-19-Patienten frei zu halten. Wie stark derKrankenhausbetrieb heruntergefahren wurde, lässt sich noch nicht genau sagen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schätzt, dass bundesweit rund 30 bis 40 Prozent aller Eingriffe von März bis Ende Mai vertagt wurden.

Aus der modellierten Schätzung der Universität Birmingham in England ergab sich, dass weltweit 28 Millionen operative Eingriffe aufgrund der Pandemie aufgeschoben worden sind. Weil in der Studie auch Daten einer Umfrage aus 34 deutschen Kliniken eingingen, konnten die Forscher hochrechnen, dass hierzulande eine Bugwelle von 908 759 Eingriffen abgearbeitet werden muss. Andere Schätzungen, wie die etwa der Fachhochschule Köln gehen sogar von bis zu 1,6 Millionen aufgeschobenen Operationen aus. Beide Studien kommen aber zum selben Fazit: Es wird viele Monate dauern, bis der Rückstand aufgeholt worden ist.

Ein Großteil der Patienten wird sich in Geduld üben müssen

Diese Einschätzung teilt die APS-Vorsitzende Ruth Hecker: „Die Kliniken haben sich zwar sehr intensiv auf den Normalbetrieb vorbereitet“, sagt sie. Doch ein Klinikalltag wie vor der Pandemie sei nicht denkbar: Aufgrund der neuen Hygieneregelungen, dem verordneten Tragen des Mund-Nase-Schutzes sowie des Abstandsgebots könne sie es sich nicht vorstellen, dass jede Klinik ihren Betrieb wieder zu hundert Prozent aufnehmen kann. „Gerade im diagnostischen Bereich – etwa vor den Räumlichkeiten der Ultraschalluntersuchung – saßen die Wartenden oft dicht an dicht auf Stuhlreihen im Gang. Das würde heute nicht mehr gehen“, sagt Hecker. Um Ansammlungen zu vermeiden, braucht es ein viel genaueres Terminmanagement. „Ein Großteil der Patienten wird sich in Geduld üben müssen, bis sie ihren Nachholtermin erhalten.“

In den Krankenhäusern gibt man sich optimistisch: „Wir sind jetzt wieder bei rund 90 Prozent der OP-Zahlen aus den Zeiten vor Corona und holen derzeit vor allem planbare, aber schwere Eingriffe nach“ , sagt Jan Steffen Jürgensen, medizinischer Vorstand am Klinikum Stuttgart. Man habe mit den rückläufigen Covid-19-Zahlen die Kapazität schnell wieder gesteigert. „Die Patienten haben auch ohne akute Lebensgefährdung Leidensdruck und erwarten zu Recht, dass Ersatztermine angeboten werden.“ Noch gebe es allerdings eine kleine Bugwelle mit ambulanten Patienten.

Von Fall zu Fall werde stets abgewogen

Für die Kliniken ist es ein Kraftakt, sagt Mark Dominik Alscher, der medizinische Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK) in Stuttgart. In der Hochzeit der Pandemie wurden die planbaren Operationen um 40 Prozent zurückgefahren – etwa ein unkomplizierter Leistenbruch oder ein Gelenkersatz. Teils traf dies auch Tumorpatienten – sofern eine Verschiebung medizinisch vertretbar war. Inzwischen stehe man in Kontakt mit den Patienten, um Nachholtermine zu vereinbaren, so Alscher. Gleichzeitig gibt es schon wieder neue Einweisungen. Von Fall zu Fall müsse nun stets abgewogen werden: Hat der Nachholtermin nun Vorrang oder doch der Neuzugang, weil dieser dringlicher sei? „So etwas muss den Patienten ja auch vermittelt werden.“

Fiebercheck für Besucher, Mund-Nasen-Schutz für Ärzte und Patienten

Ein Weiter so wie vor Corona könne es in absehbarer Zeit nicht geben, räumt auch Jan Steffen Jürgensen vom Klinikum Stuttgart ein: „Wir nähern uns zwar stark der vollständigen Auslastung an“, sagt er. Dafür sind aber andere Aufgaben hinzugekommen, die sehr personalintensiv zu betreuen sind: etwa die verschärften Hygiene- und Besucherregelungen. Wer das Krankenhaus betreten möchte, muss einen Fiebercheck über sich ergehen lassen und seine Adresse hinterlegen. Patienten müssen vor ihrer Behandlung in der Klinik auf Covid-19 getestet werden – nicht nur aufgrund des Ansteckungsrisikos. Studien besagen, dass infizierte Patienten, die sich einer OP unterziehen müssen, ein höheres Risiko für Komplikationen haben. Allein das Klinikum Stuttgart hat bisher über 35.000 solcher Labortests auf Covid-19 durchgeführt. „Das Personal, das wir für die Einhaltung der Regelungen benötigen, fehlt an anderer Stelle“, so Jürgensen. Im RBK ist man zudem dazu übergegangen,Vier-Bett-Zimmer in Doppelzimmer umzuwandeln. Um die wirtschaftlichen Ausfälle abzumildern, hat die Bundesregierung im Konjunkturpaket drei Milliarden Euro für das „Zukunftsprogramm Krankenhäuser“ vorgesehen.

Ein recht auf eine zweite Meinung

Nun hofft die APS-Vorsitzende Hecker, dass so den Klinikärzten mehr Zeit bleibt, um mit den Patienten zu kommunizieren, um Ängste abzubauen. Studien zufolge ist die Zahl der Krebspatienten zurückgegangen. Die Vermutung: Erkrankte werden seltener diagnostiziert, weil Fachärzte kaum Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt hatten oder die Patienten aus Angst vor Ansteckung gar nicht gekommen sind. Ähnliche Beobachtungen gibt es auch in der Kardiologie, wo die Zahl der akuten Herzinfarktpatienten stark geschrumpft ist. Hecker wird daher nicht müde, an die Patienten zu appellieren, mit Beschwerden zum Arzt zu gehen. Erst recht, wenn eine geplante Operation wegen Corona abgesagt werden musste. „Das habe ich auch der Patientin mit dem Gebärmutterhalskrebs geraten: Wenn Sie sich unsicher und sehr besorgt sind , dann gehen Sie zu einem zweiten Arzt, der die Diagnose nochmals beurteilt, damit auch nichts verschleppt wird.“