In der arabischen Welt sind rund 60 Prozent aller Bürger jünger als 30 Jahre alt. Die Menschen wollen Arbeitsplätze, freie Entfaltung und eine sichere Zukunft für ihre Kinder – und lehnen sich deshalb gegen die herrschenden Autokraten auf.

Istanbul - Im Sudan ist eine 22-jährige Architektur-Studentin zum Gesicht der Revolution geworden. Alaa Salah, die in der Hauptstadt Khartum vom Dach eines Autos herab singend und tanzend die Demonstranten anfeuerte und damit weltweit bekannt wurde, war noch nicht einmal auf der Welt, als der jetzt gestürzte Präsident Omar al-Baschir die Macht übernahm. Salah steht nicht nur für die friedliche Forderung nach Veränderung im Sudan. Sie repräsentiert eine Generation in der arabischen Welt, die unter autokratisch-korrupten Herrschern keine Zukunftsperspektive sieht – und die in einer zweiten Phase des Arabischen Frühlings für mehr Demokratie auf die Straße geht.

 

Mit ganz ähnlichen Motiven wie die Demonstranten im Sudan haben die Algerier den Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika erzwungen. In beiden Ländern wehren sich die Protestbewegungen nun gegen den Versuch der Eliten, einen grundlegenden Wandel zu vermeiden und lediglich die Männer an der Spitze auszutauschen.

In den Jahren nach 2011 galt die Protestbewegung in der Region lange als besiegt

Auf den ersten Blick wirkt es erstaunlich, dass acht Jahre nach den Aufständen des Arabischen Frühlings nun wieder altgediente Staatschefs von Straßenprotesten hinweggefegt werden. In den Jahren nach 2011 galt die Protestbewegung in der Region lange als besiegt. Die brutale Unterdrückung der Demonstranten in Syrien, der Militärputsch in Ägypten und das blutige Chaos in Libyen und Jemen ließen vielerorts die Forderung nach mehr Demokratie verstummen. Der Westen kooperierte unterdessen mit autokratischen Regierungen in Saudi-Arabien oder Ägypten und sogar mit Milizen wie in Libyen, um islamistische Extremisten zu bekämpfen und den Flüchtlingsansturm aus Nahost und Nordafrika zu stoppen.

Doch die Grundprobleme, die vor acht Jahren die Menschen von Tunis bis Damaskus auf die Straße trieben, sind nach wie vor aktuell und werden immer drängender: In der arabischen Welt sind rund 60 Prozent aller Bürger jünger als 30 Jahre alt. Laut Weltbank brauchen der Nahe Osten und Nordafrika wegen des starken Bevölkerungswachstums in den nächsten 30 Jahren rund 300 Millionen neue Arbeitsplätze.

Besonders Frauen sind benachteiligt. Nur 15 Prozent der Frauen in der Region haben einen Job – die Arbeitslosigkeit bei jungen Frauen ist um 80 Prozent höher als die bei jungen Männern. Was soll aus Alaa Salah im Sudan werden, wenn sie ihr Studium abgeschlossen hat?

Ruhe erkaufen funktioniert nicht mehr

Viele Regierungen haben keine Antworten auf solche Fragen. Ihre bisherigen Methoden versagen immer häufiger. Reiche Ölmonarchien am Golf etwa sind es gewohnt, sich mit Sonderzahlungen und Subventionen die Ruhe im Land zu erkaufen. Einige Herrscher wissen, dass das nicht mehr lange funktionieren wird und versuchen es mit begrenzten Reformen. Doch Frauen das Autofahren zu erlauben, wird auf Dauer nicht reichen. Die Verbreitung von Internet und Handys nimmt den Herrschenden zudem das Informationsmonopol.

Der Druck der Reformbewegung hat im Sudan und in Algerien dazu geführt, dass sich die Militärs von den jeweiligen Präsidenten absetzten, um nicht selbst die Macht zu verlieren. Aber auch eine Militärherrschaft ist kein tragfähiges Rezept. Die Menschen wollen Arbeitsplätze, freie Entfaltung und eine sichere Zukunft für ihre Kinder. Ein Autokrat kann seinen Bürgern diese Dinge auf Dauer nicht bieten, weil sie Eigeninitiative, Pluralität und Mitsprache – kurz: eine Begrenzung der Macht – voraussetzen. Ein arabischer Bill Gates oder Steve Jobs würde im Gefängnis landen, bevor er seine Kreativität freisetzen könnte.

Grundsätzlichen Umwälzungen sind nötig

Noch ist nicht klar, wohin die Entwicklung führen wird. Alle in der Region wüssten, dass sich etwas ändern müsse – sie wüssten nur noch nicht, wie das geschehen solle, sagt Paul Salem, Präsident des Nahost-Institutes in Washington. Die spontan geborenen Protestbewegungen im Sudan und Algerien haben keine klaren Führungsstrukturen und keine konkreten politischen Programme. Das macht Lösungen schwierig, selbst wenn die Militärführungen in beiden Ländern zu Gesprächen über eine Teilung der Macht bereit wären.

Die Mächtigen sollten nicht annehmen, dass sich die Lage mit ein paar kosmetischen Veränderungen wieder unter Kontrolle bringen lässt. Das Bevölkerungswachstum, die Perspektivlosigkeit und die Verlagerung der Informationshoheit von der Regierung auf den Einzelnen verlangen nach grundsätzlichen Umwälzungen. Alaa Salah und ihre Mitstreiter haben die Zeit auf ihrer Seite.