Die Russen sollen nach dem Willen ihrer Regierung später in Rente gehen. Dagegen formiert sich Widerstand: von alt und jung. Es sind vor allem Existenzängste, die sie antreiben.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Moskau - Jeden Tag kommt sie hierher. Vor allem im Sommer. Jelena Schubina stellt ihr Wägelchen voller Blumen ab. Die Menschen eilen an ihr vorbei, die einen verschwinden im Europa-Einkaufszentrum nebenan, die anderen ziehen ihre Koffer hinter sich her und warten am Bahnhof am westlichen Zentrumsrand Moskaus auf ihren Zug. Schubina sitzt auf ihrem Hocker und hofft, dass jemand stehen bleibt und einen ihrer Sträuße kauft, auch wenn ein paar Meter von ihr entfernt sich Dutzende Blumenläden aneinanderreihen. Die Russin muss will ihre mickrige Rente aufbessern.

 

Jelena Schubina ist 75 und heißt eigentlich anders. Doch ihren richtigen Namen nennen? „Wenn ich über das Negative in unserem Land erzähle? Gott bewahre!“ Die Angst sitze tief in einem Menschen, der in der Sowjetzeit aufgewachsen sei, deshalb die Vorsicht. Sie richtet ihr weißes Käppi, schaut verlegen umher. Das Negative, sagt die Rentnerin, sei „ganz klar“ die Rente. „Viel zu niedrig.“ 12 000 Rubel bekommt sie im Monat. Das sind nicht einmal 150 Euro und weniger als der Landesdurchschnitt.

Das Geld treibe sie dazu, nur die billigsten Produkte in ihrem Dorfladen zu kaufen, nicht mehr zu verreisen und eben hier zu sitzen. Tag für Tag, mit den Blumen aus ihrem Garten. Nelken, Stockrosen, Phloxe. Für einen Strauß nimmt sie umgerechnet knapp drei Euro. „Wenn man in Bewegung ist, bleibt man am Leben. Und ich habe meine Rente seit 20 Jahren ja sicher“, sagt Jelena Schubina, die einst als Köchin in einem staatlichen Werk arbeitete. „Die Jüngeren sind nun schlimmer dran. Raubt doch die Regierung ihnen einfach das Geld!“

Putins Beliebtheit ist mittlerweile auf unter 40 Prozent gesunken

Im Schatten der Fußball-WM im Land hat Russlands Regierung die Anhebung des Pensionsalters ins Parlament eingebracht. 80 Jahre hatte man das Renteneintrittsalter nicht verändert. Das System wurde reformiert, der Pensionsfonds umgestaltet, die Renten erhöht, der Inflationsausgleich eingefroren, aber das Eintrittsalter blieb. Nun müssten die Veränderungen sein, sagte Wladimir Putin in einer Fernsehansprache.

Fünf Jahre länger sollen die Menschen nun arbeiten. In einem Stufenmodell soll das Renteneintrittsalter bereits ab kommendem Jahr für Frauen auf 60, für Männer auf 65 Jahre erhöht werden. Das Parlament wird das Gesetz wohl in diesem Herbst annehmen. Aber: 89 Prozent der Russen sind nach Angaben staatlicher Meinungsforscher gegen die Reform. Viele Russen betrachten die Änderungen als Betrug am Volk und demonstrieren mittlerweile nahezu wöchentlich gegen die Pläne der Regierung.

Wladimir Putins Beliebtheit – der Präsident hatte einst erklärt, mit ihm an der Spitze des Landes würden die Renten nicht angetastet – ist mittlerweile auf unter 40 Prozent gesunken. Russlands Gesellschaftsvertrag, der auf dem Fundament „soziale Absicherung gegen politische Ruhe“ aufbaute, sicherte über lange Jahre Putins Macht. Soziale Unruhen kann der Präsident nicht gebrauchen. Auf allen staatlichen Kanälen wird deshalb nun die Notwendigkeit der Reform erläutert. Die Russen würden immer älter – allein jetzt sind mehr als 40 Millionen Menschen Rentner im Land – und der Pensionsfonds fresse 8,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, es weise ein stetiges Defizit auf und müsse aus dem Staatsbudget subventioniert werden.

An der Reform komme man also nicht vorbei. Und im Übrigen werde auch im Westen länger gearbeitet. Die Rentner, vor allem in Industriestädten im Norden und hinter dem Ural-Gebirge, überzeugt das nicht. Sie wollen den Ist-Zustand nicht verändert wissen. „Ohne die finanzielle Hilfe meiner Kinder und die Zusatzarbeit meines Mannes, der als Wachmann seinen Dienst schiebt, wäre ich wahrscheinlich schon längst unter der Erde. Mit unserer mickrigen Rente allein landet man schnell in bitterer Armut“, sagt Schubina auf dem Hocker hinter ihren Blumen.

Lebenserwartung beträgt bei Männern 67 Jahre

Was in westlichen Ohren lächerlich klingen mag, ist für Russen teils essenziell. Die Lebenserwartung beträgt bei Männern 67 Jahre, bei Frauen 77 Jahre. Vor allem russische Männer fürchten, die Rente mit 65 gar nicht mehr zu erleben. Die medizinische Versorgung ist schlecht im Land, trotz der an sich kostenlosen Medizin müssen die Russen für etliche Behandlungen und Medikamente selbst zahlen. Jeder zweite Rentner im Land arbeitet auch nach seiner Pensionierung weiter und betrachtet die niedrige Rente – im Durchschnitt liegt sie bei 14 144 Rubel, was ungefähr 174 Euro sind – nur als Zuschuss. Nun fällt das Geld, mit dem viele gerechnet hatten, weg. Das erzürnt die Massen.

„Mein Vater wäre in zwei Jahren in Rente gegangen“, sagt Alexander Petrow. Der 27-Jährige hält ein rotes Plakat in der Hand: „Geboren. Gelitten. Gestorben. Rente.“, steht darauf. Sein Vater brauche die Rente als Zuschuss für typische Altersausgaben, vor allem für Medikamente. Weiter gearbeitet hätte er wohl ohnehin. Doch nach der neuen Regel muss der Ingenieur bis zum Rente noch ganze sieben Jahre regulär arbeiten und mit dem puren Lohn klarkommen. Petrow war lange nicht bei einer Demonstration, doch jetzt ist der Jurist wieder bei einer Protestaktion am Puschkin-Platz dabei und fordert eine bessere Politik. „Es geht hier auch um unsere Zukunft. Wenn wir uns jetzt nicht dafür einsetzen, dass die Regierung sozialer agiert, dann wird es im Alter nur noch schlimmer.“

Arina Golewa – auch sie heißt eigentlich anders – geht nicht demonstrieren. „Zwecklos in unserem Land“, sagt die bald 70-Jährige. Die Reform trifft sie nicht mehr. Seit knapp 15 Jahren ist die Moskauerin in Rente. Ihre Arbeit als Sekretärin in einem ausländischen Unternehmen will sie aber noch lange nicht aufgeben. 100 000 Rubel (etwa 1300 Euro) verdient sie hier, einen Teil offiziell, einen Teil schwarz. Warum Steuern zahlen, wenn das System korrupt ist? Bis zu 30 Millionen Russen arbeiten so in der Schattenwirtschaft. Eine gängige Praxis im Land.

Arbeitslosengeld beträgt 63 Euro

17 700 Rubel bekommt Golewa als Rente, umgerechnet 220 Euro. Das alleine würde nicht zum Leben reichen. Sie ist froh, mit ihrem Mann in der Stadt zu leben: „Als Moskauer haben wir noch zusätzliche Vergünstigungen als Rentner: Der öffentliche Nahverkehr ist kostenlos, die Nebenkosten für die Wohnung sind verbilligt.“

Für gewisse Gruppen – Staatsanwälte, Polizisten, Minenarbeiter, dreifache Mütter, Dorfbewohner, Menschen mit Behinderung – gibt es ebenfalls Ausnahmen zur „Normalrente“. Manche Mitarbeiter aus dem Sicherheitsapparat gehen so bereits mit Anfang 40 in Rente. Marina Grigorjewa hilft das wenig. Die 52-Jährige arbeitete 30 Jahre bei der Moskauer Telefongesellschaft – bis ihr im Frühjahr gekündigt wurde. Die Buchhalterin ging davon aus, dass sie zumindest in drei Jahren gesetzliche Rente bekommen würde. Aufgrund Putins Rentenplänen muss sie jetzt aber acht Jahre auf ihre Rente warten.

„Mit der Beihilfe allein kann man beim besten Willen nicht über die Runden kommen“, sagt Grigorjewa. Ihr steht Arbeitslosengeld in Höhe von 5000 Rubel (63 Euro) zu, was der Hälfte des staatlich festgelegten Existenzminimums entspricht. Sie würde gerne so lange wie möglich arbeiten, sagt sie, findet aber seit sechs Monaten keinen neuen Job. Es sind existenzielle Ängste die sie jetzt umtreiben: „Wie sollen diejenigen überleben, die keine Kraft mehr haben?“