Für Millionen von Bürgern ist die Ära von Präsident Mohammed Mursi bereits Geschichte. Viele tragen die roten Karten der Rebellen-Bewegung „Tamarod“ um den Hals. Doch auch die Anhänger des Präsidenten sind gerüstet.
Kairo - Sie sitzen im Auge des Vulkans und schwitzen. Namen schwirren unter der weiß-grün gestreiften Zeltplane hin und her, während drum herum Zehntausende aus allen Ecken der ägyptischen Hauptstadt auf den Tahrir-Platz strömen. Für die zwei Dutzend Männer, die auf billigen Plastikstühlen im Kreis beieinander hocken, ist die Ära von Präsident Mohammed Mursi bereits Geschichte. Alle tragen die roten Karten mit „Hau ab Mursi“ der Rebellen-Bewegung „Tamarod“ um den Hals. „Nein, nein, nein“ antworten sie im Chor, als jemand als mögliche Nachfolger die Namen der drei Spitzenpolitiker des Oppositionsbündnisses „Nationale Rettungsfront“ aufzählt. Wild gestikulieren die Zeigefinger, keiner lässt den anderen ausreden, einer trötet mit seiner Vuvuzela in den rot-weißen Nationalfarben Ägyptens in das Gewirr hinein. „Wir haben als neuen Präsidenten keine konkrete Person vor Augen. Alles, was wir wollen, ist Gerechtigkeit, Arbeit, Brot, Benzin und Strom“, deklamieren sie. „Wir haben unsere Zukunft verloren und die wollen wird zurückhaben.“
Und so wirkt ihr kleiner, überschaubarer Zeltkosmos inmitten der unübersehbaren Menge von Mursi-Gegnern wie ein Abbild des frustriert-ratlosen Ägyptens dieser Tage. An jeder Ecke wird mit lautstarker Inbrunst diskutiert. Das 90-Millionen-Volk am Nil erlebte am Sonntag die wohl größten Protestdemonstrationen seit dem Aufstand gegen Hosni Mubarak Anfang 2011. Aber keiner weiß, wie das Land aus dem Morast herauskommen soll, in den es jede Woche tiefer hineinsinkt. Mursi muss weg, da sind sich die aufgebrachten Massen auf dem Tahrir-Platz und vor dem zehn Kilometer entfernten Präsidentenpalast in Heliopolis einig. Der neue ideale Staatschef jedoch, den sich die Debattierzirkel unter sengender Sonne und in hymnischen Farben ausmalen, den können wohl selbst die pharaonischen Götter nicht erschaffen.
Friedensnobelpreisträger Mohammed al-Baradei jedenfalls gehört nicht zu den Favoriten, auch wenn er in der Nacht zuvor in einer Videobotschaft das Volk zu einer „zweiten Revolution“ gegen Mursi und seine Muslimbrüder aufrief. Mursi habe das Land in eine Sackgasse gesteuert. „Wir haben ihm einen Führerschein gegeben, aber er kann nicht Auto fahren“, erklärte al-Baradei und forderte den Staatschef auf, sein Amt niederzulegen. „Wir wollen einen zweiten Versuch an den Urnen.“
Hunderttausende Demonstranten gehen auf die Straßen
Gut 22 Millionen Unterschriften hat die Rebellenbewegung „Tamarod“ nach eigenen Angaben für Neuwahlen gesammelt, das wäre knapp die Hälfte aller Wahlberechtigten. Seit Wochen sind die „Tamarod-Aufrufe für das Straßenreferendum mit dem rot durchkreuzten Kopf von Mursi in ganz Ägypten plakatiert. „Wenn wir Sonntag nicht das Ruder herumreißen, müssen wir wohl alle unsere Koffer packen und abhauen“, gab Ägyptens bekanntester Blogger „Sandmonkey“ den Demonstranten mit auf den Weg. Und so gingen nicht nur in Kairo, sondern auch in vielen anderen Städten Ägyptens, vor allem im Nildelta und Alexandria, Hunderttausende auf die Straßen. Bei Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern von Präsident Mursi kamen südlich von Kairo drei Menschen ums Leben.In der weltberühmten Tempelstadt Luxor fuhren 300 Pferdekutscher vor den Regierungspalast an der Corniche, hunderte Boote paradierten auf dem Nil. Seit Präsident Mursi vor zwei Wochen Adel el-Khayat, ein Gründungsmitglied der ehemaligen Terrorgruppe Gamaa Islamiya, zum neuen Gouverneur ernannte, haben auch die letzten Touristen das Weite gesucht. Die Auslastung der Hotels liegt unter fünf Prozent. „Wenn ein Unfähiger zum Präsident wird, dann wird ein Terrorist zum Gouverneur“, hat jemand an den Marmorsims des Amtssitzes gesprayt. Inzwischen hat der salafistische Provinzchef das Handtuch geworfen, jetzt wollen die Menschen auch seinen islamistischen Förderer in Kairo aus dem Amt jagen.
„Ganz Ägypten gegen die Muslimbrüder“ titelten Kairos Zeitungen. Wie zwei feindliche Heerscharen stehen sich das islamistische und das säkulare Lager inzwischen gegenüber. Denn auch Mursis Anhänger machen mobil. Zehntausende haben seit Freitag rund um die Rabaa Al-Adawiya Moschee in Nasr City ihre Zeltlager aufgeschlagen, etwa eine Stunde zu Fuß vom Präsidentenpalast entfernt. Drohend postieren sich seine Anhänger in den umliegenden Straßen. Bauhelme auf dem Kopf und Knüppel in der Hand, haben sie runde Aluminiumtabletts, auf denen normalerweise Tee serviert wird, zu Kampfschilden umfunktioniert. Milizen der Muslimbrüder halten zwischen den Campierenden militärische Drillübungen ab. Die Wahl und die Macht Mursis seien legitim, dies anzuzweifeln eine „rote Linie“, sagen sie und schwören, ihren politischen Vormann mit „Blut und Seele“ zu verteidigen. Die Opposition dagegen denunzieren sie als Schläger, Überreste des Mubarak-Regimes und politische Verlierer, die sich nun über die Straße an die Macht putschen wollen. „Das ist ein Kreuzzug gegen uns“, peitschte Assem Abdel-Maged, Chef der ehemaligen Terrorgruppe Gamaa Islamiya, die Menge auf. „Das Thema ist Krieg – und jetzt ist die entscheidende Schlacht“.
Und so hat die Armeeführung überall vor Ministerien, öffentlichen Gebäuden und Gefängnissen gepanzerte Fahrzeuge auffahren lassen. In allen drei Suezkanal-Städten, die als Hochburgen der Mursi-Gegner gelten, wurde die höchste Alarmstufe verhängt. Über dem Tahrir-Platz kreisten Militärhubschrauber. Die Zerstrittenheit des Landes habe ein Ausmaß erreicht, das die Grundlagen des n Staates gefährde, warnte Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi und fügte drohend hinzu: „Wir werden nicht schweigend zusehen, wie unser Vaterland in einem Konflikt hereinrutscht, der praktisch nicht mehr beherrschbar ist.“ Viele Ladenbesitzer hielten am Sonntag ihre Geschäfte verrammelt. Präsident Mursi und seine Familie wurden vorsorglich im Hauptquartier der Republikanischen Garden untergebracht, die den Präsidentenpalast schützen.
Der Präsident ist offen für einen Dialog
„In zehn Tagen ist er weg“, da ist sich Ayman Abdelmeguid sicher. Der 33-Jährige ist Mitglied im achtköpfigen Politbüro der Bewegung „6. April“, die schon beim Sturz von Hosni Mubarak zu den treibenden Kräften gehörte. Nach seinen Worten haben sich alle Gruppen des Oppositionsbündnisses auf einen Fahrplan nach einem Rücktritt Mursis geeinigt. Zunächst übernimmt der Chef des Verfassungsgerichts symbolisch das Präsidentenamt. Eine Interimsregierung aus Technokraten führt die Staatsgeschäfte, während die umstrittene Verfassung ausgesetzt und von Rechtsexperten überarbeitet wird. Nach sechs Monaten dann soll das Volk einen neuen Staatschef bestimmen – ein Szenario, das nach den bisherigen Erfahrungen wohl kaum realistisch ist.
Am Sonntagnachmittag meldete sich angesichts der überwältigenden Volksmassen etwas kleinlaut Mursis Sprecher im Fernsehen zu Wort. „Der Präsident ist offen für einen realen und ernsthaften nationalen Dialog“, verkündete er mit düsterer Miene, wohl wissend, dass es dafür wahrscheinlich schon zu spät ist. „Wir haben nur eine einzige Forderung, der Präsident soll zurücktreten“, hallte es wenig später von Seiten der Protestorganisatoren zurück. Alle Bürger sollten ihre friedlichen Kundgebungen so lange fortsetzen, „bis der letzte aus diesem diktatorischen Regime gestürzt ist“, heißt es in der „Revolutionären Bekanntmachung Nummer 1.“
Derweil sitzt Emad Ali am Straßenrand in Dokki, während eine fahnenschwingende Kolonne nach der anderen an ihm vorbei in Richtung Tahrir-Platz zieht. „Das Volk und die Polizei sind Hand in Hand“, skandierte die Menge und ließ jubelnd einen fülligen Verkehrspolizisten in blütend weißer Uniform hochleben, den sie mit sanfter Gewalt aus seinem Rundhäuschen auf einer Verkehrsinsel gezogen hatte. Seit zwanzig Jahren hat Emad Ali einen Laden für Parfüm, noch nie gingen seine Geschäfte so schlecht wie in den letzten beiden Jahren. „Man sollte das Wahlergebnis respektieren und Präsident Mursi eine echte Chance geben, ihn die weiteren drei Jahre im Amt lassen“, sagt der 48-Jährige, der im Juni 2012 bei der Stichwahl Mursis Kontrahenten Ahmed Shafiq gewählt hat.