Seit einem Jahr führt der Stuttgarter Bernd Riexinger gemeinsam mit der Sächsin Katja Kipping die Linkspartei. Nach Anfangsproblemen fühlt er sich inzwischen akzeptiert.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Berlin/Stuttgart - Es ist nach wie vor keineswegs so, dass er den Raum mit seinem Gestus füllt. Wenn Bernd Riexinger eintritt, ist er halt da. Der Vorsitzende der Linkspartei trägt eine rote Plastiktasche mit sich. Aufschrift: „Hier kommt die Linke“. Während vielen Volksvertretern jeglicher Couleur die Selbstherrlichkeit aus den Knopflöchern dringt, ist Riexinger noch der Alte geblieben: sachlich, uneitel und seine Gesprächspartner ernst nehmend.

 

„Vielen Dank, dass ich mit euch diskutieren darf“, begrüßt er in den Bundestagsräumen neben dem Reichstag 18 junge Gewerkschafter aus dem Bundesgebiet, die bei einem Seminar erfahren, wie die Linksfraktion so tickt. Auch seine Themen sind noch die alten: Riexinger verlangt, dass die Gewerkschaften politisch mehr mobilisieren sollen und dass linke Politik an die Alltagswelt der Menschen andocken muss. Und er will die Jugend stärker ansprechen. Der Parteichef kann und will den Gewerkschaftsfunktionär nicht abschütteln.

Bis vor einem Jahr war Riexinger Verdi- Bezirksgeschäftsführer in Stuttgart. Deswegen erhält er noch allmonatlich eine Gehaltsabrechnung der Gewerkschaft. Doch das Schreiben weist null Euro aus, weil er von Verdi zu 100 Prozent freigestellt wurde. Sein Amt wurde kommissarisch neu besetzt – bis Juni 2014 kann er seinen Posten wiederhaben, wenn er ihn will. Anschließend wird ihm die Tür von Verdi nicht versperrt, doch der frühere Job ist dann weg.

Quasi über Nacht ist er am 2. Juni 2012 ein namhaftes Rad in der Berliner Politmaschinerie geworden. Eine Woche zuvor hatte er dies nicht einmal geahnt. An diesem Wochenende, beim Parteitag in Dresden, bietet sich ihm erstmals nach seiner Wahl die große Bühne. Wenn es weiter günstig für ihn und seine Co-Chefin Kipping verläuft, werden sie weitermachen. So rechnet Riexinger – bei aller Bescheidenheit – wohl nicht mit einer Rückkehr nach Stuttgart.

Der Vater Schreiner, die Mutter Weberin

Es ist der unvermittelte Aufstieg eines Arbeiterkindes. Sein Vater war Schreiner und hat auf Heizungsmonteur umgeschult. Seine Mutter war Weberin und hat später in der Bäckerei gearbeitet. Die Kindheit in Mühlhausen war „okay“, doch dann kam der Umzug ins Nachbardorf Münklingen bei Weil der Stadt. Ein Grauen, die beiden Dörfer waren verfeindet, und der Junge musste dies mit zwei richtig schlechten Jahren büßen. Weil er dann als Halbwüchsiger nicht genau wusste, was er aus seinem Leben machen sollte, griff seine Mutter ein. Folglich wurde er zum Bankkaufmann bei der Leonberger Bausparkasse ausgebildet.

Danach driftete er politisch nach links ab. Doch die Herkunft hat ihn geprägt: Wie jeder ordentliche Schwabe gebe er nicht mehr Geld aus, als er besitze, sagt er. „Ich musste mir nie überlegen, ob ich etwas kaufe oder nicht – aber ich habe auch keine besonderen Ansprüche.“ So fährt er einen Ford Fiesta, derweil sein Vorgänger Klaus Ernst noch mit einem (betagten) Porsche die Gemüter erhitzt hat. Und für Berlin hat er sich mit seiner Lebensgefährtin zwei gebrauchte Fahrräder gekauft, mit denen sie beizeiten die Hauptstadt erobern. In Stuttgart besitzt das Paar eine Wohnung.

Riexinger verdient das 1,25-Fache der höchsten Gehaltsstufe in der Partei – 5800 brutto. Plus Weihnachts- und Urlaubsgeld. „Davon kann man gut leben, aber es ist kein Gehalt, das mich von der arbeitenden Bevölkerung besonders weit entfernt“, sagt der 57-Jährige. Zudem ersetzt die Partei seine Heimflüge und bezuschusst die Zweizimmerwohnung in Berlin-Charlottenburg, weil er für zwei Jahre gewählt wurde und die Zukunft unsicher ist.

Ob das Duo Kipping/Riexinger die Partei in die Erfolgsspur zurückbringt oder lediglich ihren Gang in die Bedeutungslosigkeit verzögern kann, muss sich noch zeigen. Bei der Bundestagswahl erwartet niemand eine Wiederholung der 11,9 Prozent von 2009, aber deutlich über die Fünfprozenthürde müsste die Linke schon kommen. Ansonsten könnte der alte Selbstzerfleischungsprozess einsetzen.

Die neue Linke

Dessen Höhepunkt war vor einem Jahr der Parteitag in Göttingen, als der Fraktionschef Gregor Gysi von „Hass“ in der Linken sprach, notfalls die Trennung von West und Ost empfahl. „Das hat manchen aus dem Herzen gesprochen und viel Nachdenken ausgelöst“, erinnert sich Riexinger. Göttingen war ein Schock. Doch das habe zugleich die Erkenntnis verstärkt: So können wir nicht weitermachen. Dann wurden Riexinger und Kipping gewählt, und einige Anhänger sangen in Richtung Verliererlager: „Ihr habt den Krieg verloren.“ Eine ungeheure Schmähung – und Chaos pur. „Ich habe das überhaupt nicht mitgekriegt“, sagt der Vorsitzende. „Aber die Leute haben schnell begriffen, dass ich nicht in das Sieger-und-Besiegte-Schema passe.“

Was damals fast unmöglich schien, ist nun Realität: Die Kritiker sind weitgehend verstummt. Eine neue Diskussionskultur hat Einzug gehalten. „Wir können nun kontrovers, aber an der Sache entlangdiskutieren“, sagt Riexinger. Das sei doch ein Markenzeichen für eine linkspluralistische Partei. „Eine Strömung darf nie mehr über die andere dominieren wollen – sonst kann dieses Projekt nicht funktionieren.“ Dies sei den meisten nun klar geworden.

Bernd Riexinger ist zufrieden: „Den Stand von Katja Kipping und mir würde ich als sehr gut bezeichnen.“ Gewiss gebe es Differenzen, beim bedingungslosen Grundeinkommen etwa. „Doch mögen wir uns und können gut als Team arbeiten“, befindet der Stuttgarter. „Das strahlt positiv aus, wenn man es vorlebt.“ Auch bekocht hat er die Tandempartnerin anfangs schon.

Im vierten Stock des Karl-Liebknecht-Hauses nahe dem Alexanderplatz hat er das größere Büro, weil die sächsische Abgeordnete Kipping noch über einen Arbeitsraum im Bundestag verfügt. Riexinger hat das Mobiliar vom Vorvorgänger Lothar Bisky übernommen. In Kippings Büro hingegen sticht die knallrote Sitzgruppe ins Auge.

Arbeitsatmosphäre statt Machtkampf

Zurück in den Reichstag: die Fraktion ist das Machtzentrum der Partei – deswegen lässt sich der Vorsitzende die Sitzungen der Abgeordneten nicht entgehen. Den von Gysi vormals festgestellten Hass hat er seither nicht mehr verspürt. Es müsse noch Vertrauensarbeit geleistet werden, das gibt er zu. Immer wieder flackerten bei Konfliktthemen die Leidenschaften auf. „Das ist wie bei langjährigen Ehepartnern – da schwappt immer die ganze Vorgeschichte mit hoch“, sagt Riexinger. Doch wachse auch eine neue Generation heran, die nicht in die alten Schlachten verwickelt sei.

An diesem Dienstag herrscht in der Fraktion eher Arbeitsatmosphäre statt Machtkampf. Das Wort führen Dagmar Enkelmann und Dietmar Bartsch, derweil Katja Kipping ohne Unterlass ihr Laptop bearbeitet. Einmal ergreift Riexinger das Wort. Er mahnt, in Dresden alles dafür zu tun, um Aufbruchstimmung zu erzeugen. Und er beklagt die geringe Präsenz der Linken im Fernsehen. In der Steuerdebatte komme die Linke nicht vor. Bei gebührenfinanzierten Sendern dürfe es doch nicht sein, dass eine Partei mit einem Wähleranteil von zwölf Prozent eine Berichterstattungsquote von zwei Prozent bekomme. „Das müssen wir offensiver kritisieren.“

Gemessen an den Talkshows dieser Republik wird die Linke keineswegs ignoriert: Sahra Wagenknecht oder Katja Kipping sind omnipräsent. „Die anderen Parteien verfügen nicht gerade über junge Gesichter“, meint Riexinger, „da haben wir etwas zu bieten.“ Er selbst drängt sich nicht in die Talkrunden. Eine einzige hat er in den zwölf Monaten bestritten – im österreichischen Fernsehen. Der „verkürzte Mediensprech“ sei nicht sein Politikstil. Ebenso überlässt er es anderen Politikern, vor zahlreichen Kameras ins Hochwasser zu steigen. Gleichwohl befindet er: „Meine Medienpräsenz ist in den letzten Monaten deutlich besser geworden – insbesondere in der ,Tagesschau‘.“ Das sei ihm wichtiger.

Das Ende der einsamen Häuptlinge

Im Rückspiegel betrachtet, findet er sich selbst steif und unsicher, wenn er an die Anfangszeit denkt. Allerdings habe die Einarbeitung durch den Vorgänger Klaus Ernst nur eine halbe Stunde gedauert. Ohne sein Team wäre er „ersoffen“. Selbst zum Kauf neuer Anzüge hat ihn seine Büroleiterin in den ersten Tagen gedrängt.

Heute hat sich Riexinger mit dem ungewohnten Terrain vertraut gemacht. Die Routine zu entwickeln – „das geht schneller, als man denkt“. Das Klischee vom Lafontaine-Zögling ist verflogen. Nun fühlt er sich weitgehend respektiert, denn er setzt seine Ausrufezeichen: Im Januar hat er den Leitfiguren Lafontaine und Gysi ihre Grenzen aufgezeigt: „Die Zeit einsamer Häuptlinge und Entscheidungen ist vorbei“, verbreitete er ausgerechnet via Twitter.

Während des Gesprächs unter der Reichstagskuppel nähert sich Christine Böer, eine der wenigen Gerichtszeichnerinnen. Gegen eine Spende möchte sie Riexinger auf einem Buchdeckel porträtieren. „Es ist Notwehr, mein Beruf wird vernichtet“, sagt sie. „Das mache ich gerne“, gibt Riexinger zurück. „Man muss die Künstler unterstützen.“ Darauf die Frau: „Och, das ist süß.“

Böer zückt ihre Stifte und nimmt sein Profil ins Visier – Riexinger fährt sich unwillkürlich durchs Haar. „Nicht extra noch kämmen“, mahnt die Zeichnerin. Als sie zehn Minuten später ihr Werk vollendet hat, lobt der Porträtierte: „Wunderbar – sehr schön.“ Böer will ihr Werk signieren. „Wie heißen Sie mit Vornamen?“, fragt sie. „Bernd.“ „Und wie heißen Sie mit Nachnamen?“ „Riexinger“. Das Buchstabieren dauert, doch dann ist die Frau zufrieden.

Weiter zum Flughafen. Die Partei stellt ihren Vorsitzenden zwei bestens ausgestattete neue A6-Kombis zur Verfügung. „Sehr angenehm“ sei „der Bernd“, sagt sein Fahrer. „Bodenständig.“ Unterwegs lässt Riexinger den Chauffeur an einem Blumenladen halten. Seine Lebensgefährtin hat Geburtstag, und weil er wegen der Hektik nach seiner Wahl im Vorjahr nicht bei ihr in Stuttgart sein konnte, hält ihn an diesem Tag nichts in Berlin. Mit einem Strauß langstieliger orangefarbener Rosen kehrt der Spitzengenosse aus dem Geschäft zurück. „Rot hatten sie nicht mehr.“