Aus, Schluss, vorbei: Deutschland ist bei der Fußball-EM ausgeschieden. Mit seinen rätselhaften Personal-Entscheidungen hat Bundestrainer Joachim Löw zu diesem vorzeitigen Ende beigetragen.

Warschau - Als alles vorbei ist, steht Joachim Löw ganz am Rand seiner Trainerbank und schaut den Italienern beim Feiern zu. Sehr lange tut er das und reckt dabei den Hals, er stellt sich sogar auf die Zehenspitzen, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Den Mann jedoch, nach dem Löw Ausschau hält, den kann er jetzt nicht finden. Cesare Prandelli steckt mittendrin in dem blau-weißen Freudengewimmel, zu dem die Stadionregie mit Adriano Celentanos „Azzuro“ den Takt vorgibt. Und so bleibt vorerst auch dem letzten Vorhaben des Bundestrainers der Erfolg versagt: seinem italienischen Kollegen zum Sieg zu gratulieren.

 

Geplatzt ist der deutsche Traum vom ersten Titel seit 16 Jahren, vorüber ist die Fußball-Europameisterschaft nach der völlig verdienten 1:2-Halbfinalniederlage gegen Italien am Donnerstagabend in Warschau. Und zurück bleibt ein Bundestrainer Joachim Löw (52), der einen entscheidenden Anteil an diesem Scheitern trägt. So wie es in der Gruppenphase und im Viertelfinale gegen Griechenland seine Siege waren, so ist es jetzt auch seine Niederlage. An Joachim Löw wird man sich künftig zu allererst erinnern, wenn das Gespräch auf dieses Spiel gegen Italien kommt.

Sehr mutige Maßnahmen

Mit beinahe beängstigender Treffsicherheit hatte Löw bis dorthin immer die richtigen Entscheidungen getroffen. Mats Hummels für Per Mertesacker, Mario Gomez für Miroslav Klose, der Mittelfeldspieler Lars Bender als rechter Verteidiger, der Austausch fast der ganzen Offensive beim Spiel gegen Griechenland – es waren sehr mutige Maßnahmen, und alle waren von Erfolg gekrönt. Es fehlte nur noch, dass der Ersatztorhüter Tim Wiese als Mittelstürmer aufläuft und das entscheidende Tor schießt. Auch das wäre Löw zugetraut worden, wenn nicht auch noch die korrekte Vorhersage der Lottozahlen.

Im wichtigsten Moment jedoch, im Halbfinale gegen Italien, hat den bis dahin unfehlbar scheinenden Bundestrainer zum ersten Mal das Glück verlassen – oder vielleicht auch das Gespür. Wer kann das schon so genau sagen. In jedem Fall wählte er eine Aufstellung, mit der er seine eigenen Ideale verriet und der Niederlage maßgeblich Vorschub leistete.

Klose als Italienlegionär

Man kann noch nachvollziehen, warum Löw sich im Angriff für Mario Gomez entschied und nicht für Miroslav Klose, obwohl der Bundestrainer innerlich der festen Überzeugung ist, dass der Italienlegionär für das Kombinationsspiel der deutschen Mannschaft besser geeignet ist. „Mario hat im Turnier drei Tore erzielt“, sagte Löw hinterher. Er wollte dem Münchner offenbar keine weitere Enttäuschung zumuten – und korrigierte die Maßnahme in der Pause. Klose kam rein.

Kroos' Einsatz bleibt rätselhaft

Mit sehr viel gutem Willen lässt sich vielleicht auch noch erklären, warum Lukas Podolski ins Team zurückkam. Auf den Faktor Erfahrung wollte der Trainer wohl setzen, auch wenn sich schon in den Spielen der Gruppenphase gezeigt hatte, dass sich die Zeit des Kölners im Nationalteam nach mehr als 100 Länderspielen dem Ende entgegenneigt. Auch diesen Irrtum musste Löw korrigieren, als es bereits 0:2 stand und schon fast alles verloren war.

Völlig rätselhaft jedoch bleibt auf alle Zeiten, warum der Bundestrainer in einer bizarren Mischung aus Übermut und Angst vor dem Gegner sein System umwarf und zum ersten Mal bei diesem Turnier den Münchner Toni Kroos in die Startelf einbaute. „Wir wollten damit das Zentrum stärken und die Kreise von Andrea Pirlo stören“, sagte Löw. „Das ist nicht immer aufgegangen“, sagte der Torhüter Manuel Neuer.

Nicht nach dem Gegner ausrichten

Unermüdlich hatte Löw in den vergangenen Jahren und auch noch vor dem Spiel gegen Italien davon gesprochen, man werde das eigene Spiel nicht nach dem des Gegners ausrichten. Andersherum müsse es laufen, die deutsche Mannschaft sei es, die den Rhythmus vorgebe. Und nun warf er wegen Andrea Pirlo, einem Mann im Alter von 33 Jahren, seine Überzeugung über Bord – und bewirkte damit, dass das bislang so fein austarierte Mittelfeldspiel seiner Mannschaft völlig aus den Fugen geriet.

Es war ein fatales Signal, das der Bundestrainer damit aussendete. Man weiß nicht, ob das deutsche Team mit einer anderen Aufstellung gewonnen hätte. Die Italiener, auch das gehört zur Wahrheit, waren sehr stark und abgezockt. „Sie wären trotzdem auf alle Fälle zu schlagen gewesen“, sagte der Teammanager Oliver Bierhoff. Das ist das besonders Bittere an diesem Ausscheiden: Anders als bei der EM 2008 und der WM 2010, als es gegen Spanien, das jeweils bessere Team, wenig auszurichten gab, war diesmal vor allem die fehlende Cleverness das Problem. Auf dem Platz – und nicht zuletzt auf der Trainerbank.

Nicht mehr unfehlbar

Seit inzwischen sechs Jahren ist Joachim Löw Bundestrainer. Es ist in dieser Zeit stetig bergauf gegangen, und es steht außer Frage, dass er der bestmögliche Coach bleibt, um das junge Team zur Weltmeisterschaft nach Brasilien zu führen. Fortan allerdings ist er auch der Mann, der nicht mehr unfehlbar ist. Für Joachim Löw, den Taktikguru, den Analytiker, den Liebling der ganzen Nation, bedeutet dies den denkbar härtesten Einschnitt in seiner Karriere als wichtigster Fußballlehrer Deutschlands.

Italiens Trainer Cesare Prandelli sitzt nach dem Spiel in den Katakomben des Stadions auf dem Podium und wird zu Löws Aufstellung befragt. Der Gentleman aus der Lombardei im dunklen Anzug will nur freundlich sein und moralische Unterstützung leisten, doch es klingt wie Hohn. Prandelli sagt: „Die Entscheidungen des Bundestrainers sind immer durchdacht. Aus meiner Sicht kann ich nur gratulieren.“