Zum 75-Jahr-Jubiläum der Stuttgarter Zeitung stöbern wir im Archiv und präsentieren unseren Leser die originale Berichterstattung früherer Zeiten. Dieses Mal: Der Rücktritt des Ministerpräsidenten Lothar Späth.

Stuttgart - Als ein tief getroffener und verwundeter Lothar Späth gestern abend (13. Januar 1991, Anmerkung der Redaktion) seinen Rücktritt vermeldete, ging nicht nur die Karriere eines bemerkenswerten Politikers, sondern auch ein Kapitel baden-württembergischer Geschichte zu Ende. Zwölfeinhalb Jahre war der am 16. November 1937 in Sigmaringen geborene Sohn eines Lagerverwalters Ministerpräsident des Südwest-Staates, und unter dem Strich waren es keine schlechten Jahre für Baden-Württemberg und seine Menschen. Lothar Späth hat sich um Baden-Württemberg verdient gemacht, das Land mit rastlosem Einsatz und unbändigem Ehrgeiz nach oben geführt. Daß er dabei aber zusehends die seinem Amt gebührende Distanz zu den Reichen und Mächtigen sowie das Gespür für das Schickliche verlor, wurde ihm jetzt zum Verhängnis.

 

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Späth, der sich ohne Abitur (was er stets als Makel empfand) und mit unglaublicher Energie vom Bietigheimer Verwaltungsbeamten zum baden-württembergischen Regierungschef emporgearbeitet hat, hat wohl bis zuletzt nicht so recht begriffen, was sich da in den zurückliegenden vierzehn Tagen gegen ihn zusammenbraute. Noch bei seiner „Rechtfertigungspressekonferenz“ am vergangenen Montag erlebten die Journalisten einen Lothar Späth ohne jedes subjektives Schuldbewußtsein. Einen Mann, der nicht begreifen konnte und wollte, daß man ihm Fehler und Schwächen vorrechnete und -hielt, die er selbst bis dato als seine Stärken begriffen hatte. Denn stolz war er eigentlich immer darauf gewesen, ein „Ministerpräsident zum Anfassen“ gewesen zu sein, der mit „Gott und der Welt“ auf vertrautem Fuß stand - daß in dieser Welt am Ende fast nur noch die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft Platz hatten, daß er die „Bodenhaftung“ verloren hatte, ist ihm wohl erst aufgegangen, als es für die Rückkehr zu den Wurzeln zu spät war.

Die Gefahren des rastlosen Politikstils verkannt

Immer wieder hat Lothar Späth in den Jahren an der Macht betont, es mache ihm „unheimlich Spaß“, mit Hilfe seiner persönlicher Beziehungen, die er stets schnell - und oft auch unkritisch - knüpfte, (wirtschafts-)politische Probleme zu lösen. Am liebsten unkonventionell, über Nacht . „So macht man das“, pflegte er seinen Mitarbeitern stolz zu erklären, wenn er wieder einmal an einem Wochenende oder in einem nächtlichen Besprechungsmarathon (Späth verfügte über eine schier unerschöpfliche Kondition) einen befreundeten Unternehmer dazu überredet hatte, eine marode Firma zu übernehmen und damit Arbeitsplätze für das „Ländle“ zu retten. Daß er die Gefahren und Risiken dieses rastlosen Politikstils, in dem sich Privates und Politisches immer mehr untrennbar ineinander verwoben, verkannte, führte schließlich zu seinem Absturz. Hinzu kam, daß ein Lothar Späth, der zunehmend zur Unbekümmertheit seinem Amt gegenüber und zur Selbstüberschätzung neigte, nicht akzeptieren wollte, daß ein Ministerpräsident sein Privatleben nicht ohne Rücksicht auf Stellung und Würde gestalten kann.

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Daß Späth es gegenüber seinen vermeintlichen Freunden aus Wirtschaft und Hochfinanz an der notwendigen Distanz. fehlen ließ, ist gewiß nicht zureichend damit erklärt, daß der Aufsteiger, der im August 1978 als Nachfolger Hans Filbingers zum jüngsten Ministerpräsidenten der Republik gekürt wurde, den eigenen Vorteil gesucht oder die persönliche Eitelkeit (von der er allerdings keineswegs frei war) befriedigt habe. Eher dürfte dem Rastlosen, in dessen sonst jovialem Gesicht nur der strenge Mund von Energie und Durchsetzungsvermögen kündete, zum Verhängnis geworden sein, daß sein persönliches und berufliches Wertesystem allein von Kategorien wie Erfolg, Macht, Ehrgeiz und Karriere bestimmt war. Dies machte ihn anfällig für die „Kumpanei der Aufsteiger“: Späth, der sich stets etwas darauf zugute hielt, auch „mit dem Mann auf der Straße“ anstoßen zu können, begab sich allzu leichtfertig in jene Ellbogengesellschaft, in der Erfolg als Wert an sich gilt und keiner fragt, wie dieser Erfolg errungen wurde.

Schwäbischer Klüngel mit Reichen und Mächtigen

Erleichtert, ja ermöglicht wurde die zunehmende Verstrickung in den „schwäbischen Klüngel“ der Reichen und Mächtigen wohl auch dadurch, daß sich Späth stets zugute halten konnte, er diene ja letztendlich dem Land und seinen Leuten, wenn er die Nähe derer suche, die an den Schalthebeln der wirtschaftlichen und politischen Macht sitzen. Hinzu kam, daß der Stuttgarter Regierungschef, der wie kein anderer in rasendem Tempo immer neue Ideen gebar (um sie oft ebenso rasch wieder zu „beerdigen“), kein „Warnsystem“ aufgebaut hatte: Spätestens seit dem Wechsel seines Vertrauten Matthias Kleinert, der ihm mehr war als nur ein Regierungssprecher, zum Daimler-Konzern, hatte Lothar Späth im Stuttgarter Staatsministerium keinen Berater mehr zur Seite, auf den er hätte hören, der ihn hätte warnen können. Seither wurde in der Villa Reitzenstein zugearbeitet anstatt beraten und konzeptionell gedacht.

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Späth war - nicht, ohne eigenes Zutun - zuletzt nur noch von willfährigen Beamten umgeben, die ihre vornehmste Aufgabe darin sahen, „den Chef“ in der Auffassung zu bestätigen, daß Späth alles und ohne Späth alles nichts sei. Nicht zuletzt auch dadurch wuchs in Späth der Glauben, allgegenwärtig sein zu müssen, da ohne ihn ohnehin nichts klappe. Jeder Arbeitstag - und freie Tage kannte ein Besessener wie Späth ohnehin praktisch nicht - wurde so zum hektischen Wettlauf mit der Zeit. Späth hetzte rastlos von Termin zu Termin, wobei sich Berufliches unablässig mit Halbamtlichem und Privatem vermengte. Mitarbeiter des Ministerpräsidenten wissen glaubhaft zu erzählen, daß Späth jede Lücke im Kalender unerträglich fand und umgehend darauf drang, diese mit einem - und sei es „zweitklassigen“ - Termin zu füllen.

Zutiefst erschüttert und verunsichert

Nicht zuletzt diese Unstetigkeit brachte ihm .schon früh den Vorwurf ein, zu sprunghaft, zu rasch, zu unbefangen in Sache und Argumentation zu sein, auf jeden Fall aber beraubte sich Späth dadurch selbst jener Ruhe, die notwendig gewesen wäre, um die eigene Person und die Erfordernisse des hohen Amtes mit Abstand und Distanz in Augenschein zu nehmen. Erst ganz zuletzt mag dem Macher Späth aufgegangen sein, daß ihm Denkpausen, Phasen der Reflektion gut getan und vor manch vorschneller Entscheidung - gerade auch im privaten Bereich - bewahrt hätten.

Am vergangenen Freitag erlebte man in einem längerem, nichtöffentlichen Gespräch jedenfalls einen zutiefst verunsicherten und in seinem Selbstwertgefühl erschütterten Lothar Späth, der schwer um Worte rang, um schließlich einzuräumen, daß er allzu lange an (politische und private) Freunde geglaubt habe, die keine waren. Da endlich ging er, ohne das allerdings in der Zeitung lesen zu. wollen, auf Distanz zu all jenen, denen er sich verbunden glaubte und die doch nur - ohne jede Rücksicht auf den Menschen Späth und seine Familie - den eigenen Vorteil gesucht hatten.

Kein schlechtes Zeugnis für den Menschen Lothar Späth

Er selbst, so räumte Späth da ein, sei fraglos „schwer beschädigt“, nun dürfe nicht auch noch das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten geschädigt werden. Soweit hat er es - und dafür gebührt ihm Respekt - nun nicht kommen lassen: Lothar Späth verläßt das Amt,·das er zwölfeinhalb Jahre verwaltet hat. Und er hat es, allen Fehlern und Schwächen zum Trotz, gut verwaltet. Dies haben ihm, wenn auch zumeist nur hinter vorgehaltener Hand, auch seine politischen Kontrahenten bescheinigt, mit denen Späth immer die sachliche und argumentative Auseinandersetzung gesucht hat. Beim Umgang mit dem „Gegner“ ließ sich Späth stets von jener Vorstellung einer „Versöhnungsgesellschaft“ leiten, die er in seinem Buch „Wende in die Zukunft“ skizzierte.

Gestürzt haben den Politiker aus Leidenschaft denn auch nicht jene, deren „Geschäft“ die Kritik an ihm und seiner Politik war, zu Fall gebracht haben Späth vielmehr jene Freunde, denen er glaubte, sich anvertrauen zu können. Sein wichtigster politischer Erfolg sei es, das „Vertrauen von Menschen erworben zu haben“, hat Lothar Späth einmal gesagt. Daß er sein Vertrauen zu leichtfertig verschenkt hat, führte nun zu seinem Niedergang. Das mag dem Politiker Späth ein schlechtes Zeugnis ausstellen, dem Menschen Späth gewiß nicht.

Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um einen ungekürzten Bericht aus Stuttgarter Zeitung vom 14. Januar 1991. Angereichert ist der Artikel Fotos zum Leben Lothar Späths, die nicht im Zusammenhang mit dem Bericht erschienen sind. Die Rechtschreibung ist weitgehend im Original belassen.