Zum 75-Jahr-Jubiläum der Stuttgarter Zeitung stöbern wir im Archiv und präsentieren unseren Leser die originale Berichterstattung früherer Zeiten. Dieses Mal: Die radioaktive Wolke über Stuttgart nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl.

Stuttgart - Nur wenige Tage nach dem schweren Reaktorunfall von Tschernobyl sind am Mittwoch und am Donnerstag auch in Württemberg und Südbaden erhöhte radioaktive Werte ermittelt worden. Das Institut für Physik an der Universität Hohenheim registrierte am Donnerstag gegen 17 Uhr das Dreißigfache der natürlichen Strahlenbelastung. Am Mittwoch abend hatten die Physiker lediglich das Doppelte der Normalwerte gemessen. Am Donnerstag abend sank der Spitzenwert auf die 25fache Belastung. „Eine akute Gefahr für die Bevölkerung besteht nicht“, erklärte der Hohenheimer Professor Dr. Hermann Schreiber. Das Ernährungsministerium bestätigte am Donnerstag nachmittag lediglich einen Anstieg der Radioaktivität auf das Sechsfache.

 

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Die Hohenheimer Physiker hatten zum erstenmal am Mittwoch morgen an ihren empfindlichen Meßgeräten einen raschen Anstieg der radioaktiven Strahlung ermittelt. Hatten die Apparaturen gegen 13 Uhr bei der langlebigen Strahlung mit 1800 radioaktiven Zerfällen innerhalb von zehn Minuten noch einen kaum erhöhten Pegel ermittelt, so ergab die Messung um 17 Uhr allerdings schon 8700 Zerfälle. Bis 21 Uhr schnellte dieser Wert auf den Spitzenpegel von 44 000, dem Vierzigfachen der natürlichen langlebigen Strahlung. Im Laufe der Nacht ließ die Radioaktivität aber allmählich nach. Am Donnerstag gegen 5 Uhr verzeichneten die Hohenheimer aber immer noch 15 000 Zerfälle. Die gesamte Strahlung lag doppelt so hoch wie normal.

Experten sehen keine Gefahr für die Menschen

Gegen 13 Uhr meldeten die vollautomatischen Meßgeräte des Instituts aber wieder einen Anstieg der Radioaktivität auf den Faktor Sechs über Normal, der bis 17 Uhr sogar auf das Dreißigfache stieg. „Ich bin ziemlich überrascht“, so Schreiber zu diesem bisherigen Spitzenpegel, „dafür habe ich noch keine Erklärung“. Es könne aber wahrscheinlich nur so sein, daß ein neuer Schub radioaktiver Stoffe aus der Sowjetunion gekommen sei. Die Möglichkeit, daß die radioaktive Wolke, die am Mittwoch über Stuttgart hinwegzog, wieder zurückgetrieben worden sein könnte, schloß Schreiber aus. „Wir haben jetzt auch noch andere Stoffe festgestellt.“

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Eine Gefahr für Stuttgart und die ebenfalls betroffenen südlichen Landesteile sah der Wissenschaftler am Donnerstag mittag trotz der kurz zuvor gemessenen sechsfachen Belastung noch nicht: „Erst 100 Stunden Belastung mit dieser Dosis entsprechen dem gesetzlich festgelegten Grenzwert, den ein Mensch im Jahr aufnehmen kann, ohne irgendwelche Schäden befürchten zu müssen.“ Aber selbst in diesem Wert ist noch ein 160facher Sicherheitsfaktor . eingebaut.“ Das Institut für Physik messe die Radioaktivität seit 1956. „In den Jahren 1963 und 1964, als weltweit besonders viele Atombombentests gemacht wurden, haben wir eine weit höhere Radioaktivität als jetzt gemessen. Außerdem hatten die dabei verbreiteten Stoffe wesentlich längere Halbwert-, also Zerfallszeiten als das radioaktive Jod 131, das in Tschernobyl in die Atmosphäre gelangt ist.“

Jodtabletten werden gehamstert

Das Jod·131 und die Nukleide Tellur 132 und Protenium 103 haben Schreiber und sein Kollege Vadim Cercasov inzwischen in der Stuttgarter Luft nachgewiesen. „Alles für ein Atomkraftwerk typische Stoffe mit einer Halbwertzeit zwischen acht und vierzig Tagen“, sagt Cercasov, „innerhalb dieser Zeitspanne halbiert sich die Strahlung dieser Nukleide um die Hälfte.“

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Trotz des Nachweises von radioaktiven Jod 131 hält Professor Schreiber die Einnahme von angeblich helfenden Jodtabletten für unsinnig. „Das hätte, wenn überhaupt, erst bei der hundertfachen Belastung einen Sinn.“

In Stuttgart hat es in den vergangenen Tagen - wie auch in vielen anderen Städten - regelrechte Panikkäufe in Apotheken gegeben „Wir hatten drei Päckchen Jodtabletten vorrätig“, so Karl Reiff von der Schloßapotheke im Westen, „die haben uns die Leute innerhalb von Minuten aus den Händen gerissen.“ Inzwischen hat er schon bei drei Großhändlern versucht, Nachschub zu erhalten: überall Fehlanzeige. „Jodtabletten sind kein Wundermittel“, sagt Reiff, „sie können sogar gefährlich sein. Bei einer Überdosis kann es sogar zu einer Kropfbildung kommen.“

Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um einen Text, der am 2. Mai 1986 in der Stuttgarter Zeitung erschienen ist. Die Rechtschreibung ist weitgehend im Original und nur zur besseren Lesbarkeit korrigiert. Die Fotos sind nicht im Zusammenhang mit dem Text erschienen, sondern eine heutige Anreicherung aus dem gemeinsamen Archiv von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten.