Die ARD trennt sich im Frühjahr 2020 von einem ihrer ältesten Markenzeichen. Das Aus für die „Lindenstraße“ wird mit Sparzwängen begründet. Bröckelnde Quoten dürften jedoch auch eine Rolle spielen. Nun protestieren die Fans des Dauerbrenners.

München - Auf die Frage nach den bekanntesten ARD-Sendungen würden die meisten Menschen vermutlich den „Tatort“, die „Tagesschau“ und die „Sportschau“ nennen; die drei bilden seit Jahrzehnten so etwas wie den Markenkern des Ersten. Dazu zählt auch die „Lindenstraße“: Die Serie ist immerhin seit knapp 33 Jahren und fast 1700 Episoden auf Sendung. Aber nun ist das Ende beschlossene Sache: Gestern hat die ARD angekündigt, dass der Dauerbrenner eingestellt wird – im Frühjahr 2020 soll die letzte Folge ausgestrahlt werden.

 

Der ARD-Programmdirektor Volker Herres versichert, man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, schließlich sei die Serie „eine Ikone im deutschen Fernsehen“ sowie „Spiegelbild der Geschichte und Entwicklung unserer Republik.“ Und das ist keineswegs übertrieben: Ähnlich wie der „Tatort“ (seit 1970) gilt die „Lindenstraße“ als ein Seismograf der Gesellschaft, denn der Produzent Hans W. Geißendörfer hat von Anfang dafür gesorgt, dass seine Autoren aktuelle Themen aufgreifen. Die Serie ist zwar nie irgendwelchen Trends hinterhergelaufen, aber sie hat den jeweiligen Zeitgeist aufgesogen wie ein Schwamm und regelmäßig thematisiert, was den Menschen unter den Nägeln brannte.

Gleichzeitig wurden stets typisch deutsche Geschichten erzählt, selbst wenn die in Serie München spielt. Gedreht wird sie allerdings auf dem Studiogelände des WDR in Köln-Bocklemünd, weil der WDR die Federführung noch vor Beginn der ersten Dreharbeiten vom Bayerischen Rundfunk übernommen hatte.

Die Serie steht für eine vermeintlich gute alte Zeit

Als Grund für das Aus verweist Herres auf die Sparzwänge der ARD, die „mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie“ nicht vereinbar seien. Das abnehmende Zuschauerinteresse wird jedoch ebenfalls eine Rolle gespielt haben; die Quoten sind seit Jahren rückläufig. Das sah Mitte der achtziger Jahre noch ganz anders aus, weil auch die Fernsehlandschaft eine völlig andere war: Als die ARD am 8. Dezember 1985 die erste Folge ausstrahlte, steckten die Privatsender noch in den Kinderschuhen; RTL plus und Sat 1 konnte nur empfangen, wer verkabelt war, und das waren nicht viele. ARD und ZDF waren im Grunde konkurrenzlos; die Vorstellung von Internet-Streamingdiensten wie Netflix oder Amazon waren pure Science-Fiction. Dass die „Lindenstraße“ allem technischen Fortschritt zum Trotz nach wie vor eine treue Fangemeinde hat, hängt vielleicht auch genau damit zusammen: Die Serie steht für eine vermeintlich gute alte Zeit, als nicht nur die Medienlandschaft, sondern das Leben insgesamt noch überschaubar waren.

Zweites Erfolgsgeheimnis ist die von Herres angesprochene Rolle als Spiegel der Gesellschaft. Alle Konflikte, die das Land im Großen und im Kleinen erschüttern, gibt es in diesem Mikrokosmos auch, übersteigert, aber erkennbar. Das gilt sowohl für große Emotionen wie auch für Geißeln der Gesellschaft: Aids, Rechtsextremismus, Terrorismus, Drogen, Arbeitslosigkeit, illegaler Organhandel, Kindesmisshandlung, Bulimie. Kein Wunder, dass die Bewohner reichlich Diskussionsstoff haben. Homo-Ehe, Multikulti, Atomkraft, Sex im Zölibat, Moscheebau und dazu natürlich der ewige Kreislauf des Lebens: Irgendwas ist immer.

Vermutlich reagiert auch keine andere Serie im deutschen Fernsehen derart prompt auf das wahre Leben: Noch am Donnerstag vor der Ausstrahlung können aktuelle Ereignisse in die Handlung eingebaut werden. Deshalb sind die bislang knapp 1700 Folgen „Lindenstraße“ auch ein Kaleidoskop der letzten 33 Jahre. Wer die Folgen studiert, wie bereits in Dutzenden von Seminar-, Diplom- und Doktorarbeiten geschehen, erhält einen perfekten Überblick über die Entwicklung von Mode, Frisuren und Einrichtung in Deutschland.

Fernsehen mit „linker Botschaft“

Vor gut dreißig Jahren wurde die Frage, ob „die Lindenstraße“ ein Spiegel unserer Gesellschaft sei, allerdings noch heftig verneint. „Sind wir so langweilig, so säuerlich moralisch, so einfältig und lebensmüde? Und wenn wir so wären, müssen wir uns dabei auch noch zuschauen?“, fragte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nach dem Start. Beim Publikum hatte es die Mischung aus Alltag und Sentiment, aus Schicksalsschlägen und Zwischenmenschlichkeiten, aus Katastrophen und Belanglosigkeiten ebenfalls zunächst nicht leicht, weshalb die Serie auch innerhalb der ARD mit Skepsis betrachtet wurde.

Die Geduld des WDR zahlte sich jedoch aus. Der Kölner Sender galt zumindest in Kreisen der CDU als „Rotfunk“; das sozialkritische Image der Serie passte ausgezeichnet zum Ruf der Redakteure. Geißendörfer wiederum, damals einer der wichtigsten Protagonisten des Neuen Deutschen Films und mit „Die gläserne Zelle“ 1979 sogar für den Oscar nominiert, war ein Alt-68er und hat die „Lindenstraße“ in diesem Sinn konzipiert, wie er auch heute noch betont: „als Fernsehen mit linker Botschaft.“ Seine Serie sollte nie „die Schule der Nation“ sein, aber er wollte die Zuschauer immer zum Nachdenken anregen. Noch heute sind ihm Schwulen- und Lesbenverbände dankbar dafür, dass die „Lindenstraße“ ihnen das Leben erleichtert habe: weil die Serie gezeigt hat, dass gleichgeschlechtliche Liebe etwas ganz Normales ist.

Schon wenige Stunden nach der Ankündigung wurden im Internet Unterschriften zur Rettung der Serie gesammelt. „Stellt die Lindenstraße nicht ein!“, lautet die Forderung der Online-Petition. Hans W. Geißendörfer und seine Tochter Hana zeigten sich verärgert: „Lindenstraße steht für politisches und soziales Engagement, für Meinungsfreiheit, Demokratie, gleiche Rechte für alle und Integration, was in Zeiten von Rechtsruck und Ausländerfeindlichkeit wichtiger ist denn je“, teilten sie mit. „Wir sind bestürzt und können nur unser Unverständnis zum Ausdruck bringen, dass die ARD es offenbar nicht mehr als ihren Auftrag sieht, die Serie fortzusetzen, zu deren Kern es gehört, diese Haltung zu vertreten.“