Götz Wurster war Belegarzt am Charlottenhaus. Sein Weggang bedeutet dort das Aus für die Geburtshilfe – es findet sich kein Nachfolger. Wurster : „Es muss sich was im System ändern“.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Es ist ein eindrückliches Bild, das vor dem inneren Auge erscheint: Ein Mann, ganz in Weiß. Vor ihm steht eine Reihe schwarzer Dominosteine. Plötzlich dreht der Mann sich um. Nicht besonders schnell. Dennoch kippt ein Dominostein um – und bringt das ganze Konstrukt zum Einsturz.

 

Es ist Götz Wurster, der dieses Bild mit knappen Worten skizziert hat: „Es ist ein komisches Gefühl, wenn man derjenige ist, der den Dominostein ins Wanken bringt, der alles zum Kollabieren bringt“. Alles – das meint die Geburtshilfe im Charlottenhaus. Denn vom 1. Januar 2019 an wird das Haus diese aufgeben: Für Wurster, der als Belegarzt an der Klinik aufhört, konnte kein Ersatz gefunden werden. Nach über 114 Jahren und 70 718 Geburten werden keine Kinder mehr im Charlottenhaus zur Welt kommen.

„Es war ein Glück, dass wir Patienten über drei bis vier Generationen begleiten durften“

Diese vergangenen 100 Jahre der Klinik waren eng mit der Familiengeschichte von Götz Wurster verquickt: Sein Großvater, Otto Mayer, hatte 1919 im Charlottenhaus angefangen, sein Vater Kurt Wurster war von 1955 bis 1985 dort tätig, Götz Wursters eigene Zeit in dem 1904 als „Stuttgarter Wöchnerinnen-Asyl“ gegründeten Haus währte von 1985 bis Ende 2018. „Es war ein Glück, dass wir die Klinik mitgestalten konnten und Patienten über drei bis vier Generationen begleiten durften“, sagt der 67-Jährige.

Dabei hatte er selbst zunächst erwogen, mit der Familientradition zu brechen: „Ich war nah dran, die Fachrichtung Hals-Nasen-Ohren zu wählen“, sagt Wurster. Nach seinem Studium in Tübingen bekam er eine Assistentenstelle bei Professor Dietrich Plester, „einem der weltbesten Ohrenoperateure der Welt“, angeboten. Doch er lehnte ab, da er sich nur geringe Karrierechancen versprach. Wurster schwenkte zur Gynäkologie um. Er promovierte – und habilitierte. „Ohne Habilitation bekam man keine Chefstelle“, sagt Wurster, der zwar hoffte, die Praxis seines Vaters sowie auch die Belegarztstelle im Charlottenhaus übernehmen zu können, der aber gleichfalls wusste, dass er die nötigen Voraussetzungen dafür selbst schaffen musste. „Es wurde immer neu entschieden, wer Belegarzt wurde – und ich wollte gar nicht erst in den Verdacht kommen, die Stelle nur bekommen zu haben, weil ich der Sohn meines Vaters bin.“

Was ihn antrieb – bis zuletzt – war das hohe Maß an Zufriedenheit

Doch als Oberarzt in der Tübinger Frauenklinik, der er zuletzt gewesen war, erfüllte er alle Kriterien, als er 1985 im Charlottenhaus anfing. Es begann eine Zeit, die ihn nicht reut – obschon sie ihm und seiner Familie viel abverlangte. „Viele Geburten finden nachts statt – und am nächsten Tag ging es weiter“, sagt Wurster. Zudem sind Geburten nicht planbar – mal gab es keine, dann fünf Geburten in einer Woche. „Ich war sieben Tage die Woche 24 Stunden abrufbar“, sagt Wurster. „Für jeden Einkauf oder Friseurbesuch musste ich mich im Kreißsaal abmelden.“ Auch seine Frau und zwei Kinder hätten hinter seinem Beruf zurückstehen müssen. „Es hieß oft am Wochenende: Papa hat Dienst, er kann nicht weg.“ Was ihn antrieb – bis zuletzt – war das hohe Maß an Zufriedenheit: das der Patienten, die vor, während und nach der Geburt vom selben Arzt betreut werden – und das eigene. Denn die Tätigkeit sei eine schöne, befriedigende: „Babys auf die Welt zu holen ist etwas anderes, als mit Schwerkranken zu tun zu haben“, sagt er.

Dennoch: Wurster ist froh, dass seine Kinder nicht in seine Fußstapfen treten wollen. „Ich glaube, dass es in drei bis fünf Jahren keine geburtshilflichen Belegärzte mehr geben wird“, sagt er. Das Hauptproblem sei die extrem hohe Haftpflichtprämie. Im Jahr 2010 betrug diese noch 10 000 Euro, 2018 sind es 63 000 Euro – Tendenz steigend. „Das schreckt jeden Kollegen“, sagt Wurster.

„Ich hoffe, dass nicht erst etwas Schlimmes passieren muss, damit sich etwas ändert“

Trotz allem Verständnis für diese macht ihm diese Entwicklung Sorgen: „Wir haben bisher rund ein Sechstel der Geburten in Stuttgart gestemmt; ich hoffe, dass die anderen Häuser nun nicht an ihre Kapazitätsgrenzen kommen – und nicht erst etwas Schlimmes mit einer Mutter oder dem Kind passieren muss, damit sich etwas ändert“.

Denn ändern müsste sich laut Wurster einiges – vor allem müsse der Staat Verantwortung übernehmen: „Man kann nicht nur schreien, dass man mehr Kinder will, man muss auch was dafür tun“, sagt er. Er nennt ein weiteres Beispiel, woran das System seiner Meinung nach krankt : Im Vergleich zu 1986 gebe es heute nur noch maximal 40 Prozent an geburtshilflichen Betten. Die Folge: Frauen bleiben nicht – wie damals üblich – nach einer Geburt sieben Tage in der Klinik, sondern nur zwei. „Dort haben die Frauen früher aber gelernt, wie sie Stillen und das Kind versorgen – es gab viel weniger Komplikationen im Wochenbett“, sagt Wurster.

Götz Wuster will langsam aus dem Berufsleben aussteigen

Vorerst ist der Dominostein aber gefallen. Das schmerze. „Es kann aber auch nicht sein, dass man bis ins hohe Alter bleibt“, sagt Wurster, der seine Frauenarztpraxis weiterführt. „Es war mein Wunsch, langsam aus dem Berufsleben auszusteigen und nicht von jetzt auf gleich rauszufallen“, sagt er. Denn er weiß: Manchmal reicht eine Bewegung, um alles zum Einsturz zu bringen.